Bis ans Ende der Welt
wegen Überfüllung weitergehen müssen.
Dies war schon die zweite richtige Stadt an einem einzigen Tag. Auf dem Camino ist ein Ort mit fünftausend Einwohnern schon eine Stadt zu nennen. Inmitten grüner Hügel, durch die zu marschieren, recht angenehm war, machte sie zunächst keinen schlechten Eindruck. Es gab zwei Kirchen, ein Schloß, das Geburtshaus des Komponisten Hector Berlioz, ein Schokoladenparadies und ein Schnapsmuseum. Aber das war uns eigentlich gleich, praktische Dinge lagen näher. Zum Beispiel, daß es keinen Gîte gab, sondern nur Hotels. So etwas war immer mit Geldausgaben verbunden, und die Qualität war keineswegs garantiert. Für sechzig Euro konnte man komfortabel übernachten, wir aber wählten die frugale Pilgerklasse. Diese dachten wir, dann kulinarisch aufzuwerten. Ganz auf die britische Art und literarisch bezeugt. Ob Walter Scott, ob Charles Dickens, ob Lewis Caroll oder J. K. Rowling, nimmermüde sitzt der Engländer zu Tisch gern und lange. Alle Gänge, alle Getränke werden einzeln geschildert und passend gewürdigt. Dabei ist die englische Küche eher etwas für robuste Naturen. Die Franzosen dagegen, obwohl kulinarisch weltberühmt, genießen schweigend.
Wir erreichten unser Tagesziel zu guter Stunde und in Erwartung wohltuender Dinge. Einem schönen Abend schien nichts im Wege zu stehen. Eigentlich nicht. Das Hotel machte von Außen keinen besonders gastlichen Eindruck. „Eine richtige Absteige,“ stand auf Bills Gesicht geschrieben. Ich widersprach nicht. Drinnen war es eng und schmutzig, eigentliche Rezeption gab es nicht. Die Besitzer fanden wir aber im Ausschank. Vielleicht haben wir sie gestört. Sie hüpften nicht vor Freude über die Kundschaft, und ihre Gesichter blieben hart und verschlossen. Wir gefielen ihnen nicht. Doch auf die Reservierung hin waren sie bereit, uns ein französisches Doppelbett zu überlassen. Sie erwarteten selbstverständlich Dankbarkeit für das Lager und taten überrascht, daß wir kein gemeinsames Bett wünschten. Das sei unüblich, wir hätten ja sonst ausdrücklich zwei Betten verlangen müssen, nun sei nichts anderes frei. Danach starten sie uns einfach blöde an, als ob damit alles gesagt worden und jede Antwort unserseits überflüssig wäre. Die wenigen anwesenden Gäste gafften ähnlich hölzern, dabei aber doch irgendwie feindselig. Alles erstarrte. Der fette Wirt mit Geschirr und Tuch in der Hand, die Gäste mit Bierglas zwischen Tisch und Mund, die Fliegen an der Decke. Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Die kannte ich. In so einer Stille klatschen Ohrfeigen besonders laut. Obwohl es wiederum fraglich schien, warum es uns gerade da passieren sollte. Doch andersrum, zwei hergelaufene Ausländer wollten ein französisches Bett nicht miteinander teilen. Das war sehr unkooperativ. Ein Frevel gar? Um Harmlosigkeit und guten Willen zu bezeugen, bestellte ich zwei Bier. Besseres fiel mir momentan nicht ein. Aber sie glotzten uns weiterhin nur blöde an. Der Wirt, seine weibliche Doppelhälfte und die Gäste, waren sie vielleicht geistig behindert? Uns wurde nun leicht unwohl. Bill rutschte nervös auf dem schmierigen Stuhl hin und her und wischte den Schweiß vom Nacken. „By some means weird“ und „faintly scary” stellte er die Situation später dar. Momentan aber schien ihn sein staubtrockener britischer Humor nicht trösten zu wollen. Schließlich traten wir den Rückzug an. Vielleicht etwas zu hastig. „Was ist mit dem bestellten Bier?“ fragte der Wirt. Es klang drohend. Ich bezahlte das Bier und trank einen Schluck. Bill ließ seins stehen. Wenn ein Engländer sein Bier stehen läßt, so ist die Lage wohl ernst. Wir gingen. Niemand sprach, kein Wort und auch keinen Gruß, nicht einmal, als wir schon draußen waren, regte sich was. Durch das große staubige Schaufenster glotzten sie uns nach, als ob wir grüne Marsmännchen oder Kinderschänder wären. Echt seltsam. Wir drehten uns noch paarmal um, ob uns die Meute nicht etwa nachsetzt.
Nun blieb nichts anderes übrig, als im teuersten Etablissement der Stadt Asyl zu suchen. Oder weiterzugehen. Das hätte mindestens noch weitere zehn Kilometer zu den schon absolvierten dreißig bedeutet. Keiner von uns hatte noch Lust dazu. Also nichts wie ran an die teuere Herberge, wo sich absolut niemand an uns störte. Auch getrennte Betten gab es zuhauf. Der Nachteil war, daß wir wie reiche Engländer behandelt wurden. Ein Page brachte unsere Rucksäcke aufs Zimmer und buckelte
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