Bis ans Ende der Welt
drehte sich nur alle paar Kilometer einmal um, um eine witzige Bemerkung zu machen. Es gibt Menschen, die meinen, das Wandern wäre ein Lustwandern und bestünde aus Pausen, Essen, Trinken, Rauchen und Unterhaltung. Das sind vermutlich irgendwelche Mitteleuropäer mit Flausen im Kopf, bestimmt keine Briten. Der Brite läuft und läuft und läuft wie aufgezogen. Vier Stunden lang. Dann macht er fünfzehn Minuten Pause und geht weiter. Sein Tempo ist am Ende genauso wie am Anfang. Schlechtes Wetter kennt er nicht, nur schlechte Kleidung, die dem Wetter nicht standhält. In diesem Sinne verzichteten wir auf das Mittagessen, es gab schlicht keinen Platz, wo man es einnehmen könnte.
Am Ende erreichten wir unser Tagesziel wohl viel zu früh. Der Gîte lag in einem kleinen Bergdorf, das einige Mühe hatte, nicht von der Bergflanke ins Tal hinunter zu rutschen. Es schien sich unter dem Regen buchstäblich zu ducken. Laut Führer lebten hier neunhundert Menschen, aber keiner wagte sich hinaus. Die Herberge war verschlossen. Sie schien gleichzeitig als Dorfkneipe zu dienen. Auf der Terrasse vergammelte eine nasse Bar, und das Leergut fühlte sich langsam mit Wasser. Ein desolater Anblick. Es gab auch noch ein Lebensmittelgeschäft um die Ecke, das von Bill erkundet wurde, doch war es wegen der Siesta ebenfalls geschlossen. Es blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Auf der Terrasse nahmen wir Platz in Plastikstühlen und ließen auf uns einregnen. Man gewöhnt sich an alles. Als nach einer Stunde der Wirt kam, wollte ich nicht mehr aufstehen, blieb weiter draußen sitzen und starrte vor mich hin. Naß war ich schon — und müde. Am Ende mußte mich Bill holen. Als ich dann aber heiß geduscht ins Zimmer zurückkehrte, kam der Regen draußen so dicht, wie es mir im Leben noch nie vorkam. Nicht einmal während der Monsunzeit auf Ceylon. Es war die wahre Sintflut. Das Wasser bildete eine geschlossene Wand, man sah das Haus auf der anderen Straßenseite nicht mehr. Dort schlug gerade ein Blitz ein und schleuderte ein paar Schieferplatten vom Dach. Es hörte sich an, als ob einem die Knochen im Leib bersten würden. Die Fenster konnten die Flut nicht mehr abhalten. Das Wasser kam durch die Ritzen ins Haus, floß fröhlich die Holztreppe hinunter und dann unter der Eingangstür wieder auf die Straße, wo ein kleiner Gebirgsfluß tobte.
Und mitten in dieser Kalamität spazierte ein Paar herein, froh, ein Dach gefunden zu haben, doch ohne besonderes Aufsehen von dem Unwetter zu machen. Zwei zähe Typen in den Dreißigern, englisch-amerikanisch sprechend, ohne besonderen Akzent. Ich kannte sie bereits. Sie fielen mir auf der Fähre nach Genf auf, wo sie am Nebentisch saßen. Damals schienen sie mir nicht sehr gesprächsbereit, also ließ ich es auch sein. Irgendwie aber waren sie anders, fielen auf. Ihre Ausrüstung war teuer und absolut zweckmäßig. Kein Gramm zu viel, doch nichts fehlte. Irgendwie erweckten sie einen professionellen Eindruck. Bill, von Neugier getrieben, horchte sie noch vor dem Dinner aus und kam mit erstaunlichen Neuigkeiten. Nomaden seien sie, hätten keinen eigenen Platz, am ehesten wohnten sie wohl in Nepal, aber das sei auch unsicher! Es schien ihn mächtig zu verblüffen. Nach der improvisierten Gebetstunde bei Louis Revel war es erst das zweite Mal, daß ich ihn etwas konsterniert sah. Sonst hatte er sich gut in der Hand. Freilich hüpfte er auch hier nicht gleich vor Aufregung auf und nieder, aber die Emotion war ihm anzumerken. Immerhin! Später irgendwann erzählten mir die zwei, sie hätten etwas geerbt und keine Lust, für Onkel Sam zu malochen und Steuer zu zahlen. Das Geld sei sowieso nicht sicher, und eine Rente werde ihre Generation nicht mehr sehen. So wollten sie Auszeit nehmen, dabei etwas von der Welt sehen, und lieber im Alter arbeiten. Da war etwas dran, wenn auch nicht viele so denken. Die meisten machen eine gute Miene zum bösen Spiel und arbeiten ihr Leben lang in der Hoffnung, daß ihnen die Mächtigen etwas vom Lohn übrig lassen. Auch wenn es nicht viel ist. Daß die Mächtigen zuerst satt werden müssen, daran zweifelt niemand. Unter den Tieren ist es ja auch so. Auch haben die Mächtigen stets irgendwelche Feinde, die sie dem Volk aufhalsen. Hassen sollen sie lernen, obwohl sie alle Brüder sind und vor Gott füreinander einzustehen haben. Trotz des Gebots sind sie bereit, auf andere loszugehen, sie leiden zu lassen und selbst zu leiden. Sie sehen keine andere Möglichkeit. Es
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