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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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umher. „N’oubliez pas le pourboire, „ mahnte mein Französischlehrbuch. Echt weit habe ich es als Pilger gebracht, ein livrierter Page trug meinen Rucksack gegen Trinkgeld umher. Um Buße zu tun, machte ich mich gleich an die Wäsche, während Bill ganz ohne Reue die Bar heimsuchte. Als ich wieder zu ihm stieß, hatte er schon einige Drinks intus und machte Pläne zum Dinner. Die Hotelspeisekarte sah appetitlich aus. Leider auch teuer. Also erinnerte ich Bill an den alten englischen Aberglauben, man solle nie in dem Hotel speisen, wo man übernachtet, und statt dessen ein Restaurant, das ausschließlich vom Kochen lebt, aufsuchen. So taten wir dann. Wir wanderten mehrmals durch alle Gassen, waren mit nichts zufrieden und landeten schließlich am Ende unserer Geduld in einem recht komfortablen Etablissement, das unserem gehobenen Geschmack zu entsprechen schien. Das war es dann auch. Von der klassischen französischen Küche bislang zu verwöhnt, rechneten wir gar nicht damit, daß es noch etwas anderes geben könnte. Doch ausgerechnet dieses Restaurant hier gehörte zu den innovativen Vertretern der Nouvelle cuisine , die sich laut Enzyklopädie „durch Leichtigkeit, Reinheit und einfache, unverfälschte Aromen“ auszeichnet. Leicht war die Mahlzeit schon, weil die Portion sehr klein ausfiel, und das unverfälschte Aroma bestand im Fehlen jeglichen Gewürzes. Auch Salz fehlte. Das Resultat war ein mickriges Stück zähen, halbgekochten Fleisches auf einem großen leeren Teller, garniert mit Zitronengras und drei sehr dünnen Scheiben Kartoffel. Als ich später einmal unter Franzosen diese Geschichte erzählte, lachten sie sich fast krumm, uns aber war gar nicht zu lachen. Wir verließen den Laden enttäuscht und kleinmütig. Bill merkte an, der Wein sei gar nicht so schlecht gewesen. Ich gab ihm recht, der Wein war das Beste an der innovativen Art zu kochen, vorausgesetzt, die Flasche wurde verschlossen serviert. Hungrig streunten wir durch die Stadt und landeten schließlich in einer Bar, wo wir versuchten, mit Bier die fehlende Kaloriemenge auszugleichen. Das ist uns, glaube ich, schließlich gelungen. Wir waren wohl die einzigen Europäer hier, alle anderen waren junge, meist männliche Araber. Marokko, Algerien, Tunis. Ausschließlich aus dem französischen Maghreb. Manche tranken Bier, andere schienen sich nur zu unterhalten oder spielten Automaten. Sogar ein Tischfußball gab es. Musik und Umgangsprache jedoch waren Französisch, und es war bestimmt die einzige noch offene Bar in der Stadt. Ein netter Laden, wo viel los war. Es gab darin nur zwei Europäer – uns zwei. Aber niemand starrte uns blöde an.
Revel-Tourdan, km 1137
    Wir brachen am Morgen schon früh auf und nur mit einem Glas Orangensaft im Magen. Instinktiv wollten wir weg von hier, und das magere Hotelfrühstück wäre die verlangten zehn Euro pro Person nicht wert. Wir wollten statt dessen versuchen, unterwegs etwas Besseres aufzutreiben. Sollte ich nochmals in diese Stadt kommen, würde ich eine Zeltausrüstung und Eßvorräte mitbringen. Der Aufenthalt kam teuer und war das Geld nicht wert. Das Gewitter, das pünktlich nur zwei Straßen weiter losging, paßte voll dazu. Nichts wie weg! Wir marschierten verbissen, ohne viel zu reden. Es ging rechts und links, rauf und runter, der Weg war kompliziert. Langsam regnete es sich ein. Bald waren wieder alle Bäume durchgeregnet, Schuhe und Unterhosen durchnäßt, die Kälte kroch in die Knochen. Wieder dachte ich daran abzubrechen, aber welchen Sinn hätte es, in einem verlassenen Kaff hängen zu bleiben, nur weil es regnete. Das hätte mir nur den Tag vermiest. Sowieso sah es so aus, als ob es nie aufhören würde. Und doch war es nur ein Vorbote. Um Mittag kam ein neues Gewitter, Blitze schlugen in die umliegenden Hügel ein. Und über uns summten armdicke Hochspannungsdrähte. Sie kamen von einem Atomkraftwerk im Tal der Rhône vor uns. Sie hingen schwer und tief über den Hügeln. Man hätte denken können, sie würden unter der eigenen Last brechen. Es fiel dichter Regen, und es war nicht beruhigend, keine zwanzig Meter über dem Kopf eine Million Volt rauschen zu hören. Manchmal konnte man Blitze zuckend über die Drähte fahren sehen. Es war irgendwie unirdisch, und der Herr ging ein Stück mit, damit ich mich nicht zu sehr fürchte. Bill ging vor und merkte wohl nichts davon. Ich sah nur seine verschlammten Schuhsolen auf- und niedergehen. Er bahnte eine Gasse durch den Regen und

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