Bis ans Ende der Welt
geht nichts über die gute alte Gehirnwäsche, und wer nicht auf den Zug springt, den heben die anderen hoch. Und wer auch dann nicht will, kommt unter die Räder. Ein einziger ehrlicher Mann unter den Dieben stempelt sie zu Verbrechern. Es darf nur eine Wahrheit gelten. Was sollten sie denn sonst tun? Alle nach Nepal ziehen? Oder ins Kloster gehen? Vielleicht haben sie niemanden zu beerben. Trotzdem wollen sie essen und trinken und sich vermehren, damit es mit der Welt weitergeht. Dazu brauchen sie Arbeit, ein Dach über dem Kopf. Auto, Fernsehen, Internet, Pauschalurlaub nehmen sie einfach mit, wenn es schon sein muß. Und wer sonst als die Mächtigen sollte es ihnen geben? Es macht sie abhängig. Das Ende sehen sie nicht, wollen nicht sehen.
Wir aber waren nicht dabei. Zumindest nicht an diesem Tag. Wie bei Asterix saßen wir am Abend in der Runde, aßen und tranken, was uns der Wirt fürs Geld und der Herr in seiner Güte bereit war zu bescheren. Was auch immer sonst auf der Welt passierte, wir wußten es nicht. Gab es Krieg, gab es keinen, so haben die Mächtigen es so gewollt, um ihre Geschäfte voranzutreiben. Wir waren ihnen nichts schuldig. Nach bestandenen Abenteuern wärmten wir uns am Feuer, aßen Wildschwein und pfiffen auf Rom, Cäsar und die Sorgen von morgen.
Chavanay, km 1170
Am nächsten Morgen aber kam Bill plötzlich die Erinnerung, er müsse seiner Ehefrau bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung repräsentativ zur Seite stehen. Er bestellte sich ein Taxi und war in Nullkommanichts auf und davon. Ich habe nie mehr von ihm gehört, doch trage ich ihn im Herzen. Möge seine Frau beim Tontaubenschießen stets ruhige Hand behalten und sich vor den anderen Damen keine Blöße geben. Es war echt spaßig mit Bill. Ersatzweise erbte ich nun die zwei Nepal-Amerikaner, denen ich von da an über Hunderte Kilometer bis nach Moissac täglich begegnen sollte. Über die lange Zeit kamen wir uns etwas näher, aber ich spürte immer eine gewisse Distanz. Trotz meiner miserablen sozialen Kompetenz lag ich dieser Hinsicht stets richtig. Irgendwie war ich ihnen unheimlich, das spürte ich. Vielleicht auch wegen der Laufleistung, auf die sie im Gegensatz zu mir recht stolz waren. Ich war ja nur ein Fußkranker, sie aber professionelle Wanderer und durchaus gewöhnt, andere abzuhängen. Vielleicht vermuteten sie bei mir einen widrigen militärischen Hintergrund. Sonderkommandos oder Ähnliches. Es kam einmal andeutungsweise zur Sprache, blieb aber letztlich ungeklärt. Nun ging ich also wieder allein, und das war gut. Der Pilger braucht Zeit für sich, weil die wahre Pilgerschaft innen geschieht. Indem er geht, meditiert er. Die Strapazen des Weges helfen ihm, zu sich vor Gott zu finden. Dazu braucht er das Alleinsein. Und das wurde mir unterwegs — und eigentlich auch sonst — nie zu viel. Wenn nötig, konnte ich mich ja in Gedanken an einen beliebigen Punkt meiner Erinnerung versetzen und dort einfach eine Weile verweilen, bis die Langweile oder physische Last nachließ und die Demut einkehrte. Allein konnte ich ungestört mit dem Herrn reden. In Gesellschaft ist all das viel schwerer. So angenehm sie sein mag, sie lenkt nur vom eigentlichen Ziel ab. Es war gut mit Bill, allein war es besser.
Motiviert schritt ich auf dem patschnassen Waldpfad aus. Es gab riesige, tiefe Wasserlachen zu umgehen, was nicht immer einfach war. Eigentlich hätte der Weg endlich absteigen und bequemer werden müssen. Das heutige Etappenziel war mit knapp zweihundert Meter Meereshöhe der tiefste Punkt der gesamten Frankreichstrecke. Aber wie oft im Leben versperrten etliche Hindernisse den Fortgang. Der Camino folgt hier nicht dem Tal und Fluß, wie es gewöhnliche Straßen tun. Er geht über Höhen und Tiefen, während einige Kilometer weiter rechts das Flüßchen La Varéze die leichtere Passage zur Rhône nimmt. Doch von dem historischen und darüber hinaus sehr gut markierten Weg abzuweichen, wäre fast schon ein Frevel. Den gelobte ich zu gehen, keinen anderen. Also stürmte ich im englischen Tempo gegen die Hügel an und lobte den Herrn für seine Schöpfung, denn die Aussicht da oben ist großartig. Die dicken Stromleitungen, die aus dem Tal kommen, scheinen irgendwie zur Landschaft zu passen. Es sind die Kathedralen der Moderne, somit ein Teil der Kulturlandschaft. Sie knurrten heute nicht mehr, trotzdem traute ich ihnen nicht und passierte unter ihnen stets mit Vorsicht und gemischten Gefühlen. Solchen Teufelsdingen war
Weitere Kostenlose Bücher