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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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Mandelzuckerkuchen machte mich wieder etwas munter, in der Bäckerei war es angenehm warm, und es roch geradezu köstlich. Aber wie lange darf man sich in einer Bäckerei straffrei aufhalten? Schon bald setzte ich den Marsch in der Gesellschaft von Bill fort, der sich hier von Robin verabschiedete. Man kann sich in solchen Ortschaften nicht aus dem Wege gehen, auch wenn man es wollte. Wir folgten nun dem Flüßchen Guiers nach Südwesten, während die Rhône eine Kehrtwendung in der entgegengesetzten Richtung machte. Bei schönem Wetter bliebe mir bestimmt eine ersprießlichere Erinnerung an die steinerne Brücke und die Wehr zurück, jetzt aber war ich auf der Flucht. Es war ein frommer Wunsch, dem Regen zu entkommen, doch vergeblich. Nicht einmal eine Pause gab es. Soweit das Auge reichte, überall leere, offene Landschaft, die dem Wind keinen Widerstand bot und den Regenschleier gierig aufsog. Bäume gab es kaum. Sie waren ohnehin schon völlig durchgeregnet und boten keinen Schutz. Das Wasser sammelte sich in den Kronen und kam in Sturzbächen hernieder. Außerdem schlugen überall Blitze ein, und ein einsamer Baum war gewiß kein sicheres Versteck. Bill freilich marschierte, als ob nichts wäre. Echt britisch. Seine einzige Klage galt der Regenhose. Die sei nach ein paar Jahren Gebrauch doch nicht mehr so dicht wie früher. Ich bezweifle aber, daß seine Unterhose so naß war wie die meinige, womöglich wollte er mir nur Trost spenden.
    Geschenkt! Ich hatte die Nase endgültig voll, verlor jede Geduld und schimpfte wie ein Spatz über die widrige Nässe. Als ich mit zwei Jahren das Skifahren lernte, trotzte ich, weil die Ski nicht bergauf fahren wollten. Skilifte gab es damals bei uns noch nicht. Ich stampfte auf, war nicht zu trösten. Offenbar habe ich mich seit damals nicht viel weiterentwickelt. Meine Gefühle waren ja sehr ähnlich. So unterlag ich der Versuchung, als ein Schild an einem Zaunpfahl Übernachtung auf einem Bauernhof anpries. Er lag abseits der Route, und ich hätte das Tagesziel nicht geschafft. Außerdem würde ich mir vor Bill eine Blöße geben. Aber es war mir alles gleich, wenn ich nur endlich ins Trockene käme. Ich pfiff also auf Prinzipien und ging hin. Dort aber lag das Haus so unsäglich einsam, naß und kalt, daß ich es vorzog weiterzugehen. Im Dorf selbst traf ich keinen einzigen Menschen. Und warum auch, bei diesem Wetter? Die Antwort lag in der Luft. Es roch nach Holzfeuer. Man saß wohl am Kamin und ließ es sich bei einem Glas Rotwein gutgehen. Ich erkannte nun meine Schwäche und riß mich zusammen. Naß und kalt war ich schon, also konnte ich einfach weitergehen. Es war gerade noch eine Gehstunde bis zu dem Campingplatz, wo wir ursprünglich übernachten wollten. So legte ich munter los und ließ keine Sorgen wegen des Wetters mehr zu, bis ich ankam.
    Ein so exzessiver Marsch hat sehr viel mit Geduld und Demut zu tun. Die richtige Einstellung macht den Pilger aus. Man geht und geht und geht, bis eines Tages der Weg ein Ende hat. Beeilen wäre sinnlos, es gibt kein Wollen und kaum Ablenkung. Manchmal ist die Landschaft schön, manchmal weniger, manchmal ist gar nichts zu sehen. Das Wetter ist, wie es ist. Die Sonne scheint, der Regen fällt, der Wind bläst. Oder auch nicht. Man ist allein unterwegs. Es sei denn, man ist als Individuum mit einem anderen Individuum so sehr verzahnt, daß man zusammen allein sein kann. Auch wenn es hie und da einen geselligen Begleiter gibt. Häufig wurde ich gefragt, warum ich allein unterwegs sei. Ich redete mich stets heraus, ein zweiter Verrückter sei nicht zu finden gewesen. Ein Scherz. Die Wahrheit ist, ich hatte niemanden, dem ich mein Gelübde hätte auflegen können — und dürfen. Ich schulde dir die Erfüllung meiner Gelübde, o Gott; ich will dir Dankopfer weihen. Denn du hast mein Leben dem Tod entrissen, meine Füße bewahrt vor dem Fall. So gehe ich vor Gott meinen Weg im Licht der Lebenden . [27] Bei diesem Handel gibt es keinen Dritten. Ebenso kein Drängen und keine Eitelkeit. Es gibt keinen Verdienst zu erwerben, es sei denn vor dem Herrn, und der ist fraglich, weil vor dem Herrn alles zu kurz und zu wenig ist. Ich hatte keinen Anspruch auf besseres Wetter und andere angenehme Dinge, ich hatte nur den Weg zu gehen — wie gelobt. Nicht nur das Wetter, meine Einstellung war falsch. Also war ich in Unrecht vor dem Herrn. Ich war wütend und kleinmütig wie der zweijährige Junge, der ich einmal war, aber der war ich nicht

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