Bis ans Ende der Welt
seiner göttlichen Herkunft und der daraus wachsenden Verpflichtung zu leben und die Natur nicht zu mißbrauchen. Wer weiß.
Es war mir jedenfalls klar, daß ich an diesem Tag über Chavanay wohl nicht hinauskommen werde. Trotz des kaputten Atommeilers. Das Städtchen liegt gleich gegenüber am anderen Rhône-Ufer mitten im steilen Weinberg. Etwa zweieinhalbtausend Menschen leben hier. Schon vor dem Bau des Atommeilers muß es ein verschlafenes Nest gewesen zu sein, das ein bescheidenes Dasein führte. Jetzt lag es staubig und leicht verwahrlost vor mir. Menschen waren selten, fahrende Autos aber zuhauf zu sehen. Keine der im Führer gelisteten Übernachtungsstellen war telefonisch zu erreichen. Verschlafen war das wahre Wort. Also landete ich schließlich in einem verwahrlosten Hotel an der Hauptstraße. Die Ruine hätte eigentlich gut in eine gleichwertige ukrainische oder rumänische Stadt gepaßt. Die Zimmereinrichtung bestand aus drei unterschiedlichen, doch völlig unbrauchbaren Betten in verschiedenen Höhen von dreißig bis hundert Zentimetern über dem schmutzigen Boden, einem zugemauerten Kamin und zwei Wandschränken mit verstaubten Gläsern und viel Mäusedreck darin. Ich fragte den Wirt nach dem Kraftwerk. „Was soll denn damit sein?“ fragte er verwundert zurück. Ich erklärte also, daß kein Dampf aus den Kühltürmen steigt und somit ein Störfall vorliegen muß. „Das ist mir noch nicht aufgefallen,“ war die sinnige Antwort. Er war offenbar nicht ernsthaft beunruhigt. Vorbehalte gegen die Atomkraft schienen Franzosen sowieso nicht zu haben, nicht einmal hier, direkt an der Quelle. Die Diskussion war zu Ende, bevor sie begonnen hatte. Also bestellte ich ein Bier, für das ich später radioaktive sieben Euro zu zahlen hatte. Ein Weißbier, meinte der Wirt, koste eben etwas mehr. Später, nach meiner Heimkehr, erfuhr ich aus einem Bericht der Tageszeitung Le Figaro , daß an diesem Tag bei Inspektionsarbeiten im AKW 15 externe Mitarbeiter radioaktiv kontaminiert wurden. Aber keine Sorge. Der Betreiber der Anlage teilte mit, die Fachleute, die zu Wartungsarbeiten gekommen waren, seien „nur leicht“ durch radioaktive Strahlen belastet worden, die keine gesundheitlichen Folgen hätten. Die Betroffenen hätten ohne Behandlung nach Hause gehen können. Brauchten sie wohl nicht mal eine Taschenlampe mit auf den Weg zu nehmen.
Alles andere wurde einfach unter den Tisch gekehrt. Auch als fast zu gleicher Zeit im AK Tricastin, laut Betreiber der größten Atomanlage der Welt, mehrere Strahlungsunfälle hintereinander passierten. Dort stehen vier alte Druckwasserreaktoren und eine Wiederaufarbeitungsanlage für Atombrennstäbe. Erst liefen dreißig Kubikmeter uranhaltiger Flüssigkeit in den Fluß, immerhin 360 Kilogramm abgereicherten Urans, dann entweichte ein wenig radioaktiver Staub (Kobalt-58) und verstrahlte hundert Mitarbeiter, dazwischen sickerte etwas von den provisorisch unter einer Erdkuppe entsorgten 750 Kilogramm Uran aus den 70er Jahren in die Umgebung. Zeitgleich lief in der Brennstäbefabrik in Romans-sur-Isére nahe Grenoble wegen einer „seit Jahren brüchigen Leitung“ radioaktive Flüssigkeit aus. Die Presse sprach von „zwei schwarzen Wochen an der Rhône“, für die französische Atomaufsichtsbehörde waren das aber nur kleine „Anomalien“. Nicht der Rede wert und ganz ohne Einfluß auf die Umwelt. Angeblich ereignen sich gleich Hunderte solche Vorfälle Jahr für Jahr und werden normalerweise gar nicht veröffentlicht. Oder verheimlicht. Warum legte man in St-Alban beide Atommeiler still? Wegen ein paar fidelen Mitarbeitern, die nach Hause geschickt wurden? Da fragt man sich was.
So miserabel das Zimmer war, es hatte einen Fernseher. So dachte ich, mehr über die Lage zu erfahren, doch es gab nur die übliche Gehirnwäsche: Alle Politkomiker Europas feierten in Japan eine Königshochzeit, in London explodierte etwas, auf den Straßen gab es Autounfälle, und der Europazirkus tagte wegen Chinesenschwämme. Kein St-Alban. Erst einige Tage später erschien die Meldung in der Lokalpresse, später dann in den Pariser Zeitungen, als die Pannenserie ruchbar wurde und alles auf einen Skandal deutete. Der Rest des Abendprogramms bestand aus Schwachsinn, schlimmer noch als zu Hause, wo ich den Fernseher schon vor Jahren aus Gründen der geistigen Hygiene auf die Straße stellte. Er stand dort, obwohl fast neu, ganze zwei Tage, bis ihn jemand mitnahm. Angewidert ging ich nun ins
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