Bis ans Ende der Welt
vergreifen konnte. Alles in Fülle. Davon nahmen wir aber nur spärlich, weil es um die Ecke ein offener Lebensmittelladen mit lokalen Wein- und Käsespezialitäten gab. Diese waren mir schon immer Favoriten.
Auf dem Zimmer fand ich auch einige Taschenbücher, eines davon, die Beschreibung einer historischen Pilgerreise nach Tibet wollte ich mitnehmen, lies es aber zu meinem großen Bedauern am Morgen auf dem Bett liegen. Es sollte nicht sein. Doch seit Wochen las ich nichts außer im Pilgerführer und der Bibel, und langsam fühlte ich den Mangel. Ich beschloß, mir bei der erstbesten Gelegenheit wieder ein Lesebuch zu besorgen, wenn ich ein passendes finden konnte. Passend hieße spannend, doch erbaulich, jedoch nicht zu schwer im Gewicht. Es gelang mir dann aber erst in Moissac. Es war das Buch Pilote de Guerre von Antoine de Saint Exupéry, zerlesen, zerfledert und mit einem kitschig reißerischen Bild auf der Titelseite. Es begleitete mich dann bis nach Hause, auf dem Camino hat man doch nicht so viel Zeit zu lesen. Zusammen mit Tagebuch, Brille und Schreibzeug schleppte ich es überall durch die Herbergen, und später in Spanien, wo Deutsche, Italiener und Spanier die größte Pilgerschar ausmachen, hielt man mich deshalb für einen Franzosen. Was mich nur ehrte.
In diesem denkwürdigen Gîte lernte ich zwei Pilger kennen, die mich noch lange auf dem Camino begleiten sollten — eine Deutsch-Schweizerin und einen Arzt aus Norddeutschland. Der Arzt hieß Jörg mit Vornamen und war ein feiner, sympathischer Mensch mittleren Alters. Er litt an etwas, was heute wohl mit Burn-out zu bezeichnen wäre, und was die Enzyklopädie schnöde als „Minderung des Wohlbefindens, der sozialen Funktionsfähigkeit sowie der Arbeits- und Leistungsfähigkeit“ beschreibt. Zu Hause schmiß er alles hin und machte sich auf den Weg nach Santiago. Ich wünsche ihm, daß er fand, was er vielleicht nicht sicher benennen wußte, jedoch suchte. Das Mädchen hieß Rebekka und war genau das Gegenteil von ihm. Klein und dick, im wahren Sinne des Wortes vierschrötig wie eine Papiertonne, trug auch noch ein abartig rotes Haar, das man nicht so schnell zweimal sieht. Große Zierde ihres Geschlechtes war sie nicht gerade, doch sehr fidel, optimistisch und gewiß ein echtes Waliser Original. Hätte ich in der Schweiz eine Schokoladenfabrik, ich würde diese Frau als Reklame anheuern. Sofort. Sie sprach das Schwyzerdütsch, als ob es eine richtige Hochsprache wäre. Hemmungslos aufrecht — sozusagen. Mit der Zeit gewann ich sie und ihren Dialekt immer mehr lieb, und wenn ich meine lästernde Einstellung zu den Eidgenossen bedenke, so tat mir der Herr wohl wieder einmal den Gefallen, mich an der Nase zu fassen. Mehrmals blieb sie hinter mir zurück, doch tauchte sie immer wieder auf, bis ich sie nach Hunderten von Kilometern in Moissac endgültig aus den Augen verlor. Wie sie es auf ihren kurzen, dicken Beinchen geschafft hat, mich immer wieder einzuholen, ist mir ein Rätsel. Sie hatte Saft, das steht fest.
Jedenfalls wurden es von nun an immer mehr Pilger. Le Puy en Valey, eine wichtige historische Pilgerstätte, lag schon zum Greifen nah. Für viele diese Stadt der Ausgangsort der Pilgerschaft. Die Tradition geht auf den Bischof Godesalc zurück, der hier im Jahre 950 als einer der ersten den Camino bestieg. Noch mehr Pilger? Ich war so an das Alleinsein gewohnt, daß ich mir so einen Andrang kaum vorstellen konnte, und sah der Entwicklung mit gemischten Gefühlen entgegen.
Les Sétoux, km 1219
Wir brachen am nächsten Tag alle gemeinsam los und hatten gute Zeit trotz schwierigen Geländes. Es ging weiter aufwärts, heute sollten es gleich achthundert Höhenmeter werden. Wegen der Schluchten und Täler, in die man wieder absteigen mußte, wurden es dann noch mehr. Meist waren es heute gute Wege, aber es gab auch enge und steile Stellen. Gerade, wenn man sich schon auf das Bequemere eingestellt hat. Aus dem Hügelland wurde langsam ein richtiges Mittelgebirge. Wie hoch im Schwarzwald, mit tiefen, romantischen Schluchten, über die der Camino auf einer aufgelösten Lokalbahnstrecke auf luftigen Brücken schritt. Der Pilat-Nationalpark atmete würdige Anmut ein und aus. Wir trödelten jeder für sich im knappen Abstand, trafen und trennten uns immerzu, so daß sich keiner – sprich Jörg — in seiner Kontemplation genötigt sah. Irgendwann ging ich dann zusammen mit der kleinen Walliserin weiter. Zu zweit machte es einfach mehr Spaß, die
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