Bis ans Ende der Welt
Bett und betete zum Herren: „Herr, heute früh marschierte ich über den Grat, sah die geballten Wolken, das satte Grün der Hänge, und mein Herz war übervoll mit dem Lob der Schöpfung. Da war ich mit dir groß. Jetzt bin ich klein und gemein in diesem Loch. Laß so, ach Herr, wieder Morgen werden.“
St-Julian-Molin-Molette, km 1194
Und der Herr ließ Morgen werden, blau und golden, und ich bestieg nach dem Frühstück energisch den steilen Pfad rechts hinter der Kirche. Nichts wie weg von hier! Oben auf dem Bergkamm hielt ich an der Chapelle du Calvaire aus dem 17. Jahrhundert kurz an. Den Herrn zog es gleich weiter, weil hier fleißig repariert und betoniert wurde und eine echte Kontemplation kaum möglich war. Ich aber blickte noch zurück auf das tote Atomkraftwerk unter mir und beklagte den Frevel. Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. [28]
Damit ließ ich die Rhône, die mich eine ganze Weile auf meinem Weg begleitete, endgültig zurück. Ich dachte an den grünblaugrünen Gang durch den Rhônegletscher, den wilden, felsigen Gebirgslauf des Rotten in Wallis, den grünen, glatten, muskulösen Strom unter dem Pont de la Tour l’Ille beim Austritt aus dem Genfer See, die üppigen, von schrillen Vogelstimmen hallenden Rhôneauen in Savoyen, an berühmte Weine wie Châteauneuf-du-Pape, Gigondas, Tavel, Lirac, Hermitage, Côte Rôtie. Ein romantischer Fluß, ein mächtiger Fluß, der zweitgrößte Strom Frankreichs, den und dessen Kanäle ich gerne mit dem Boot befahren würde. Hier unter mir sah ich eine andere Rhône — lahm, gebändigt und als Spülbecken für ein Atomklo mißbraucht. Es war ein etwas trauriger Abschied.
Aber nicht deshalb war ich unterwegs, um Schönes zu erleben. Von nun an sollte es wieder aufwärts gehen. Rein geographisch gesprochen, um fünfhundert Höhenmeter am heutigen Tag. Und die Natur ließ auch wieder Gutes erwarten. Das Wetter war günstig, der Boden fruchtbar, Apfelplantagen und Weinberge winkten mit noch unreifen Früchten, auch die üppigen Brombeerbüsche, doch ab und zu gab es schon große, dunkelrote Kirschen. Ich habe mir im Scherz eine Parole zurechtgelegt, es sei das Recht und die Pflicht des Pilgers, am Weg alles Eß- und Trinkbare zu plündern, was sich nur finden läßt. Das stimmt insofern, als man meist nur wenig kaufen kann und eigentlich ständig hungrig und durstig ist. Irgendwo in bequemer Autoreichweite gab es bestimmt gleich mehrere Supermärkte mit allem, was man nur in den Kofferraum laden kann. Hier aber stand nicht einmal eine Bank oder Steinmauer zum Ausruhen parat. Folglich war ich so sehr mit Kirschklau beschäftig, daß ich mich verlief und einen ziemlichen Umweg über einen echt steilen Berg machte. Es war gar nicht so einfach, auf den Camino zurück zu finden. Ist man nämlich erst abseits geraten, weiß niemand mehr über den Weg Bescheid. Die kleinen Sünden bestraft der Herr sofort. Aber die Kirschen waren echt köstlich, auch fand ich auf diesem Berg eine nette kleine Stadt, eine bequeme Bank beschattet von kleinen Platanen und ein paar nette Menschen, die mir am Ende die Richtung wiesen. In einem kleinen Dorf fand ich eine Stelle, wo man Pilgerstempel bekam, denn in dem häßlichen Hotel am Vorabend gab es keinen. Beim Hinaustreten aus der Kirche traf ich auf zwei junge Männer aus Neuseeland mit einem Esel, die den Camino entgegen der Richtung liefen. Ein Stück weiter drückte sich in einer verfallenen Scheune eine Frau mittleren Alters mit einem Maulesel herum. Es war viel los in dieser Gegend. Die Zahl der Pilger nahm zu, plötzlich tauchten sie auf und verschwanden dann meist wieder auf Nimmerwiedersehen. Nur die zwei Nepal-Amerikaner blieben mir treu, auch an diesem Tage.
Am Nachmittag erreichte ich eine simple, doch auch billige Herberge mit dem originellen Namen Radio d’ici . Man verlangte nur eine Spende für die Übernachtung, obwohl der Führer acht Euro veranschlagte. Das Haus war überhaupt nicht leicht zu finden, mehrere Male lief ich daran vorbei, dann fand ich die Tür mit der Jakobsmuschel daran, doch stand alles leer und offen, so daß man sich gar nicht hinein traute. Dem Namen nach muß diese Herberge einmal etwas mit einem Lokalradio zu tun gehabt haben, doch das Geheimnis blieb mir verschlossen. Sie machte mehr den Eindruck einer linken Studentenkommune. Es gab eine gut ausgestattete Küche und jede Menge freie Lebensmittel, an denen man sich straflos
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