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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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einfach nicht zu trauern. Immer noch war alles naß, und ab und zu regnete es ein wenig. Die Luft war schwül, was weitere Gewitter ahnen ließ. Die Jause mußte ich auf dem nackten Boden des Feldweges einnehmen, da es keine einzige Bank oder eine andere Sitzgelegenheit gab. Aber die gab es sowieso nie. Hier jedoch nicht einmal ein Stein oder ein Stück Holz, nur nasse Erde. Alles schien fruchtbar, jeder Meter wurde auf die eine oder andere Weise landwirtschaftlich genutzt. Die Felder waren teilweise schon abgeerntet. Trotzdem gab es absolut niemanden zu sehen. Die französischen Bauern tun ihr Werk sehr diskret, das steht nun mal fest.
    Eine solche Idylle konnte freilich nicht ewig halten. Irgendwann stieg ich ins Tal hinunter, aus den matschigen Wegen wurden gut asphaltierte Straßen, auf denen stinkende, lärmende Autos fuhren, und alles unterwarf sich dem planvollen Streben nach Geld und Fortschritt. Vor mir versperrte ein graues Atomkraftwerk, die Quelle der dicken Kabel, den Weg über die Rhône. Ein wahrer Moloch. Fast vierzehnhundert Megawatt Strom erzeugten die zwei Druckwasserreaktoren normalerweise. Heute aber machte es einen öden, toten Eindruck. Wie ein gestrandeter Wal lag es da. Und der Eindruck täuschte nicht. Das Kraftwerk stand still, kein Dampf stieg aus den Kühltürmen. Wohl deshalb war vorher kein Summen in der Stromleitung zu hören. Das Ding war kaputt, abgeschaltet. So etwas tun die Betreiben nur nach einer ernstzunehmenden Panne. Und eine Panne in einer Atommühle? Ich glaubte die Strahlung förmlich spüren zu können. Das erste Mal, daß ich dieses Gefühl hatte, war während eines Motorradausflugs in die Toskana. Da kam urplötzlich so ein komisch warmer Regen, daß ich instinktiv Schutz unter einer Brücke suchte, mich dabei wie schmutzig fühlte und überhaupt nicht wohl, was noch mehr zutraf, als ich einen Tag später zufällig erfuhr, daß im ukrainischen Tschernobyl ein Atomkraftwerk in die Luft flog und in ein paar Stunden halb Europa verstrahlte. Das Ding hier schien wenigstens noch ganz zu sein, verbreitete trotzdem eine unheimliche Stimmung. Das war kein Ort für Pilger. Laut Führer wäre das heutige Tagesziel Clonas-sur-Varèze gewesen. Mit sechsundzwanzig Kilometern eigentlich eine gute Tagesleistung. Ich aber hatte noch nicht genug und ließ es links liegen, dann auch das Camping des Nations in St-Alban-du-Rhône, wo ich ebenfalls hätte übernachten können. Der Name versprach sowieso nur Streß und Hektik, und ich hätte noch einige Kilometer auf der belebten Nationalstraße marschieren müssen. Ein kompletter Unsinn.
    Nun war auch der Weg am Kraftwerk vorbei auf das andere Flußufer nicht gerade ein Honiglecken. Wenn so eine große Anlage gebaut wird, gestaltet man gewöhnlich die ganze Gegend neu, macht Hügel platt, das Krumme gerade und betoniert, was sich betonieren läßt. Mit Fußgänger rechnet man nicht dabei, Bäume wären auch nur überflüssiges Holz. Mir blieb nur das Marschieren auf endlosen Straßen ohne Schatten. Ausgerechnet für diese Zeitspanne haben sich nämlich die Wolken verziehen, und die Sonne stach bösartig auf mich ein. Auf der Brücke gab es überhaupt keinen Gehweg, und die Autos sausten mit hundert Kilometer oft nur wenige Zentimeter an mir vorbei. Manche der Fahrer fühlten sich offenbar durch den frechen Fußgänger im Fortkommen behindert und hupten heftig. Als ob ich das noch gebraucht hätte. Es war eine sehr lange Brücke, die sich über das ganze potentielle Überschwemmungsgebiet spannte. Bis ich sie endlich passierte, war ich mit meiner Geduld ziemlich am Ende und beschloß, wieder zu Hause, keinen überflüssigen Meter mehr mit dem Auto zu fahren. In der Schule wurde uns immer die Erfindung des Rades als die größte Errungenschaft der Menschheit angepriesen. Aber es war wohl nur ein Teil der allgemeinen Gehirnwäsche oder die Einschätzung von Kleingeistern. In Wirklichkeit war es wohl die blödeste Erfindung, die es hätte überhaupt je geben können, und die der Menschheit seit eh und je nur Verdruß brachte. Mobilität, Versorgung, Bewegungsfreiheit, es sind doch nur die Trostpflaster auf einer hirnrissigen Infrastruktur und verfehlten Gesellschaftspolitik. Eines Tages werden die Megastädte und das sinnlose hin und her Sausen ein Ende nehmen. Nur eine kleine Störung im System, dann werden Gras und Bäume durch den Beton wachsen und der Spuck wird vergehen. Oder der Mensch findet einen Weg, mit der Technik im Einklang mit

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