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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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Gesichter geschrieben. „Wären nicht die Sat-Schüsseln, käme man sich in Les Sétoux vor wie im Mittelalter,“ schrieb der Führer. Es stimmt, nur die Schüsseln sind mir gar nicht aufgefallen. Der Ort stammt immerhin aus dem 13. Jahrhundert. Aber die Herberge ist modern, sauber und geräumig, die Wirtin freundlich und rege. Ich fand gar einen Kamin, wo ich alsbald ein nettes Feuer entfachte. Die anderen waren, so schien es mir, über die Eigeninitiative etwas verlegen, was ich nicht ganz verstand. Nur deswegen, weil nicht die Wirtin en personne das Feuer legte, sollte man sich das kleine, harmlose und darüber hinaus praktische Vergnügen versagen? Monate voller Strapazen lagen noch vor mir, wo würde ich wieder Wärme und Gemütlichkeit finden? Es galt, die Gelegenheit zu nützen. Ich saß vor dem Kamin, sah genießerisch dem Spiel der Flammen zu und schrieb am Tagebuch, während sich die anderen draußen in der Kälte herumtrieben. Ich bewunderte ihre konsequente Selbstdisziplin.
    Alle zusammen gingen wir später in das Dorfrestaurant von Marcelle Payrard zum Abendessen. Die Holzstühle und Trophäenvitrinen an der Wand erinnerten mich an die deutsche Vereinskneipe. Doch war das Essen ordentlich, wenn auch vielleicht ein bißchen weniger üppig als an manchen der reicheren Orte. Freilich waren auch hier vier Gänge und eine Karaffe Rotwein obligatorisch. Keiner ging hungrig oder gar durstig ins Bett, und am nächsten Morgen versorgten uns die freundlichen Leute mit Brot für die Weiterreise. Es gab nämlich wieder einmal keinen Laden, um für den Tag einzukaufen.
La Papeterie, km 1245
    Da wir nun gestern den Gebirgskamm überschritten, ging es nun auf dem Hochplateau im abwechslungsreichen Gelände relativ moderat zu. Es war nicht sehr warm, der Himmel graute die meiste Zeit, doch der Regen blieb aus. Ich genoß weiterhin die Gesellschaft der kleinen Schweizerin, die tüchtig ausschritt, so daß ich das gewohnte Tempo nicht ändern mußte. Sie war eine gute, unkomplizierte Seele, hatte aber ihren Willen und feste Grundsätze. Die Stimmung in der Landschaft pendelte zwischen romantisch, desolat und verwunschen. Ein großer Wald verschluckte uns für eine ganze Weile, dann war es wieder die Heide. Die Gegend war dünn besiedelt, immer wieder fielen verlassene und verfallene Häuser auf. Nur zwei, drei Dörflein lagen am Weg. Alles war aus dem archaischen graubraunen Basaltgestein gebaut, das so typisch für die Gegend ist. Das Velay ist vulkanischen Ursprungs und liegt zwischen den Flüssen Loire im Norden und Allier im Süden. Es gehört zu der Provinz Haute-Loire. Der Nationalpark ist wohl die Wasserscheide. Das meiste sichtbare Menschenwerk schien aus dem frühen Mittelalter zu stammen. 12. bis 13. Jahrhundert, wußte der Führer genauer zu berichten. Sogar die Wälder schienen jünger zu sein. Früher war hier wohl alles nur öde Heide. Die Landwirtschaft war nicht vieler Worte wert, doch immerhin bekannt für ausgezeichnete grüne Linsen – Lentille verte de Puy . Dies wohl eher unten im Tal, hier oben wuchs meist nur Gras. Getroffen haben wir niemanden, auch keine Reiter oder Wagen dort, wo der Camino auf eine Straße stieß. In dieser Öde hatten Mensch und Tier viel Auslauf. Kreuze und riesige Rotkäppchen wuchsen am Wegrand.
    Irgendwo mittendrin schloß sich uns ein Hund an. Erst lief er einige Zeit kaum sichtbar in respektvollem Abstand hinterher, wurde dann immer mehr präsent, als ob er uns auf sich erst gewöhnen wollte. Als wir Pause hielten und das Essen auspackten, wurde er zutraulich. Armes Tier, verlorener Streuner. Er konnte kaum zwei Jahre alt sein, vielleicht noch weniger, ein reinrassiger grauweißer Jagdhund wie in der Gegend häufig zu sehen, doch in einem erbarmenswürdigen Zustand. Ganz jung muß er wohl entlaufen oder, wie heue leider häufig, zurückgelassen worden sein. Eine Scheuernarbe von immer enger werdenden Halsband, bevor er es schließlich abstreifen konnte, verunstaltete den Hals. Darunter baumelte lose ein kinderfaustgroßer Tumor. Eine grausige Bißnarbe war auf dem Rücken sichtbar. Da muß sein letztes Stündlein bereits geschlagen haben. Außerdem fehlten alle Zähne im linken Unterkiefer, was zusammen mit einer schlecht verheilten Hüftverletzung auf einen Autounfall deutete. Was hat wohl dieser junge Rüde schon alles erleben und aushalten müssen? Und doch war es völlig arglos und vertrauensselig, seine eitrigen braunen Augen funkelten, er zeigte die typisch

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