Bis ans Ende der Welt
nichts von einer Weiterreise ahnte. Nun kam zur guten Mahlzeit auch die Vorfreude auf das leichtere Gepäck. Wegen böswilliger, pilgerverachtender Moskitos, die mit dem Sonnenuntergang zur Jagd bliesen, gingen wir früh ins Bett.
Jeder von uns suchte sich einen eigenen Verschlag und hatte damit sozusagen ein Zimmer für sich. Ich freute mich über diesen kleinen Luxus, weil ich mich nach wie vor nur schwer auf das kollektive Nachtlager gewöhnen konnte. Häufig wachte ich auf, wenn jemand von den anderen auf die Toilette schlich, und häufig weckte ich andere durch meine eigene Unruhe auf. Beides war mir natürlich nicht recht. Der französische Gîte d’étape ist eine sinnvolle Einrichtung, aber kein Luxushotel. Nun hatte ich gute Aussichten auf angenehme Nachtruhe, aber es wurde nichts daraus. Mitten in der Nacht weckte mich ein wütendes Pochen und Nagen in der Zehe, das auf nichts Gutes hindeutete. Die Zehe war ganz entzündet und schillerte in allen Farben. Ich versuchte, mit der Nagelschere die tiefliegende Blase, die mich seit Les Setoux quälte, aufzustechen, aber nur mit eher mäßigem Erfolg. Es kam zwar Blut mit Wasser heraus, aber die schmerzliche Operation brachte nicht die erhoffte Linderung. Vielleicht lag noch eine zweite Blase darunter. Mit einer kaum sterilen Nagelschere bei schlechtem Licht im nackten Fleisch zu stochern, ist wohl nicht empfehlenswert, und ich war mir der möglichen Gefahr durchaus bewußt. Umgekehrt kann so ein eingeschlossener Eiterherd nahe am Knochen noch schlimmere Folgen haben. Die Angst vor Brand und die Schmerzen ließen mich den Rest der Nacht nicht mehr so recht schlafen.
Queyrières, km 1272
Erst gegen Morgen beruhigte sich der Körper, die Zehe schwoll etwas ab, die Angst wich. In den Sandalen konnte ich den Weg vorläufig fortsetzen. Eine herannahende Wetterfront und möglicherweise steinige Wege komplizierten zwar die Lage ein wenig, aber mit beiden hatte ich schon Erfahrung. Im wesentlichen ging es darum, sich keine Zehe an einem Stein zu brechen. Wenn ich aber in Socken durch Schlamm und Pfützen waten mußte, dann war es eben so. Bis die in der Sandale ungestützten Gelenke zu wackeln begannen oder die Wege unbegehbar wurden, konnte die Wunde heilen. Jede einzelne Stunde zählte. Die Zehe habe ich desinfiziert, mit Salbe versorgt und dick bandagiert. Ich war gerüstet.
Am Ende war es dann nicht so schlimm. Das Wetter hielt vorläufig noch, und der Camino folgte meist den kleinen, verlassenen Asphaltstraßen, für die meine billigen Sandalen wie geschaffen waren. Ich marschierte fast schmerzfrei, nur halt etwas langsamer. Die kurzbeinige Rebekka war bestimmt nicht böse darüber, verlor sie doch mit dem fortschreitenden Tag immer mehr an Elan. Der Camino kletterte bis auf dreizehnhundert Meter hoch, bis dahin wohl den höchsten Punkt meiner Pilgerreise. Die Sichten in tiefe, weite Täler und auf die fernen Vulkankegel waren rundweg spektakulär. Insbesondere, da die Witterung eben nicht nur nett und niedlich war. Erst der Himmel rundete das Bild ab, verlieh der Berglandschaft an Volumen und Plastizität. Ein tiefer, weiter Raum tat sich vor uns auf. Weiße und graue Wolken, silberne Regenschleier und das Himmelblau wetteiferten alle zugleich um die Gunst des Zuschauers. Man konnte den Wind über dem Kamm halten sehen, dann fortfahren. Blau und Grün lagen in allen Schattierungen neben- und übereinander. Wir waren mit allen Sinnen gut damit beschäftigt, all dies wahrzunehmen und nichts auszulassen.
Später aber geriet alles in Flucht und Aufruhr vor dem herannahenden Wahn in unserem Rücken. Immer wieder ballten sich tiefschwarze Wolken zusammen, und immer wieder wurden sie vom Wind auseinandergetrieben und verjagt. Spätestens dann, als wir schon vor Queyrières standen, sah es aus, als ob es nun doch mit aller Kraft losgehen sollte. Plötzlich wurde es dunkel wie in der Nacht, der Wind, noch unentschlossen, wohin er wollte, schob uns buchstäblich hin und her wie zwei Schachfiguren. Der Herr flog mit den Elementen auf, als ob er nicht wiederstehen könnte, fegte über den Himmel und die Berge, strich mit dem Arm die Hänge glatt, bog Büsche, Gras und Bäume um, eine Handvoll Blitze warf er ins Tal, einen ließ er in der Basaltorgel von Queyrières eingerammt stehen. Ich wollte mich beeilen, Sicherheit suchen, da ich in den Bergen schon üble Gewitter erlebte und in unserer exponierten Lage Schlimmes befürchtete. Auch war das Dorf zum Greifen nah. Doch
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