Bis ans Ende der Welt
Herberge um diese frühe Stunde ganz für sich allein, von den Putzfrauen vielleicht abgesehen. Es hatte keinen Sinn zu warten. Ich hatte noch siebzehn Kilometer zu marschieren.
Etwas mißmutig setzte ich den Weg allein fort. Nach ein paar Tagen gewöhnt man sich an den Begleiter, daß man ihn vermißt. Begegnungen und Freundschaften auf dem Camino sind tiefer, nachhaltiger als im normalen Leben. Auch machte sich meine Zehe wieder bemerkbar. Der Weg ist schon seit einer Weile rauher geworden, und ich mußte immer wieder das Schuhwerk wechseln. Rein in die Schuhe, raus aus den Schuhen. Das nervte und hielt auf. Auf den Abstecher zum Berg Montjoie mußte ich ganz verzichten, weil der Pfad für meine angeschlagene Kondition einfach zu steil war. Von diesem Berg hätte ich bis nach Le Puy blicken können, wie es seit eh und je unter den Pilgern Tradition war. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, die Stadt bald von innen zu sehen. In Saint-Germain Laprade besserte ich den Trost mit einer Tüte Milch auf. Es fing gerade wieder an zu regnen, und ich redete mir ein, nach der Milchpause werde es wieder aufhören. Es hörte nicht auf, aber da kam gerade Jörg der Aussteiger, in großer Konversation mit einem Einheimischen vertieft, um die Ecke. Als Jugendlicher profitierte er vom deutsch-französischen Jugendaustausch und sprach gutes, wenn auch etwas langsames Französisch. Eine förderliche Sache dieser Austausch, wird aber kaum noch fortgesetzt. Heute möchte man sich bitte in Denglisch verständigen. Ich erbot ihm meine Gesellschaft. Aber er sagte, er gehe „mit diesem Herrn hier“. Komisch, denn er hat sich von ihm gerade verabschiedet. Einige Kilometer folgte ich ihm nach. Erst im strömenden Regen auf einer dichtbefahrenen Landstraße, dann durch nasse Wiesen und matschige, brombeerbewachsene Hohlwege. Sie wären nicht so matschig, wären da nicht zuvor ein paar Cross-Motorräder durchgefahren. In den Schlammlöchern versank man leicht bis zum Knie. Der Herr muß sie hingeschickt haben, um Pilgern Demut zu lehren. In Nullkommanichts wurde ich völlig naß und die Sandalen — im wahrsten Sinne des Wortes — untragbar. Unter diesen Umständen und in meiner schwachen Verfassung konnte ich mit Jörg nicht mehr mithalten und ließ ihn ziehen. Leiden konnte ich ganz gut allein, mußte es nicht vor anderen tun.
Auf noch gar nicht so alten Aufnahmen von Le Puy sieht man eine sehr viel kleinere Stadt als heutzutage. Dort, wo früher nur Felder und Wiesen waren, und der ankommende Pilger andächtig auf das gewaltige Panorama blickte, stehen heute ein Haus auf dem anderen und Tausende Autos im Stau. Die Stadt scheint geradezu explodiert zu sein. Ich ging und ging und ging und hatte das Gefühl im Kreise zu laufen. Die zwei riesigen Basaltkegel, die Wahrzeichen der historischen Altstadt, die mir fast schon zum Greifen nahe schienen, verlor ich wieder aus den Augen. Es fiel ein ranziger Regen. Wo war denn die Stadt, wo einst der Jakobsweg begann? War ich von lauter Stadien, Einkaufszentren und Tiefgaragen dran vorbei gelaufen? Es war wieder die Demut gefragt, meine alte Schwäche. Als ich dann in der historischen Herberge neben dem Dom endlich Unterkunft fand und frisch gewaschen aus der luftigen Höhe auf die Stadt zu meinen Füßen blickte, machte ich gleich ein dreifaches Kreuz, es endlich geschafft zu haben. Willig wollte ich auf alle Einkäufe verzichten und keinen Schritt außerhalb des historischen Stadtbezirks tun. Ich war dem Verkehr, dem man als Fußgänger ja völlig schutzlos ausgeliefert ist, seelisch nicht mehr gewachsen.
Es war keine vorübergehende Laune, ich spürte, daß ich mich unter dem Einfluß des Camino zu verändern begann. Stets war ich ein naiver Träumer, den man leicht um den Finger wickelte oder auch in die Wüste schickte. Die Welt, wie ich sie sah, war die Projektion meiner selbst. Nun begann die Illusion zu bröckeln, ich wurde strenger zu mir, sah Dinge klarer, sah durch den Schleier fremder Interessen und Ambitionen, die an mich herangetragen wurden, urteilte simpler, objektiver. Der Selbstbezug, das Wollen wurde weniger. Im gleichen Maße fing mein Herz an sich zu öffnen, das Mitleid mit der Welt wuchs. Fremde Dinge, vollendete Fälle rührten mich nun. Ich las die Namen der Gefallenen aus den zwei Weltkriegen an den Tafeln vor den Kirchen und Rathäusern. Väter, Söhne, Brüder, ganze Familien und Verwandtschaften, zwei, drei Generationen für das Spiel und die Kurzweil der Mächtigen
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