Bis ans Ende der Welt
ausgelöscht. Name für Name las ich, Tag für Tag, Dorf für Dorf. Auch bei uns hängen die Tafeln, als Erinnerung, als Warnung, aus Pietät. Empörend war es, gewiß, schrecklich, und was noch? Ein abscheulicher Mord, ein Stück der Zukunft vernichtet, ein Teil der Schöpfung zerstört. Nun aber sah ich den geschundenen Menschen und weinte, wie ich beim Tod des Vaters weinte. Herr, erbarme dich unser für all das, was wir getan und nicht getan haben.
Da freute ich mich so auf diesen Augenblick, bereitete mich tagelang darauf vor, und nun hätte ich gleich weiterziehen können. Es gab nämlich eine Panne bei der Reservierung. Der Anrufbeantworter war schuld, vielleicht. Aber man ließ Gnade vor Recht walten und gab mir ein Bett, ja sogar ein eigenes Zimmer, das aber so winzig war, daß man sich fast nicht umdrehen, den Rucksack nicht leeren konnte. Dafür entdeckte ich einen Aufenthaltsraum, der diesen Namen tatsächlich verdiente – mit Holzboden, alten Möbeln und einer großartigen Panoramasicht über die ganze Stadt. Das Haus war seit dem Mittelalter eine Pilgerherberge. Am Horizont sah ich die Hügel, die ich nach Mittag passierte, folgte dem Weg an der Wohnsiedlung, dem Fluß, dem Stadion und dem riesigen Einkaufshaus bis zur Altstadt. Aus dem Meer roter Dächer erhob sich wie ein gewaltiger Felsen in der Brandung einer der schroff aufragenden Basaltkegel, gekrönt von der festungsartigen Chapelle Saint-Michel-d’Aiguilhe aus dem 12. Jahrhundert. Sehr eindrucksvoll. Auf den alten Fotos war das Land ringsum noch leer und grün. Ich versuchte jede freie Minute in dem Aufenthaltsraum zu verbringen, las, schrieb und sah auf die Stadt.
Zum Abendessen kamen vielleicht zwanzig Leute zusammen. Fast alle wollten hier die Pilgerschaft beginnen. Jedem wurde nach einem obskuren Schlüssel ein Tischplatz bestimmt. Ein älteres holländisches Ehepaar, ein strammer Frankokanadier, eine junge Pariser Anwältin und eine Belgierin waren meine Tischnachbarn. Bis auf den Kanadier — von Beruf ein LKW-Fahrer und fanatischer Frankophone — sprachen alle wohl besser Englisch als ich Französisch, aber man legte Wert darauf, sich in der Landesprache zu unterhalten. Ich mischte mich nicht viel ein. Stephanie, die Pariserin, war mir etwas zu forsch und beredt, mit dem Kanadier verwarf ich mich, als ich ihm auf den Kopf zusagte, seine nationalistische Denkart hätte uns Europäer gleich zweimal Millionen von Toten und den Ruin gebracht und wir hätten daraus gelernt. Danach gab’s nur die Konversation, die man pflegt, weil man an demselben Tisch sitzt. Das Essen war für französische Verhältnisse, wie ich sie bis dahin kennenlernte, ungewöhnlich bescheiden. Die Portionen waren knapp und genau auf die Zahl der Tischgäste bemessen. Nicht einmal von den schon erwähnten grünen Linsen gab es hinlänglich. Den Wein ließen die meisten einfach stehen, da man ein Glas vom Billigsten auch ruhig stehen lassen kann. Nur ich und der Frankokanadier ließen sich davon nicht abhalten. Serviert wurde etwas linkisch von Personen, die unschwer dem Knast- und Drogenmilieu zuzuordnen waren. Erst später kam die Erklärung, man unterhalte im Hause aus den laufenden Einnahmen eine kleine Zahl reuiger Sünder. Daher sei auch das Geld gut zu zählen und das Zimmer zu verschließen. Partagé war das Stichwort. Teilen mit denen, die nicht haben und benötigen.
Kaum war das Dînée beendet, schon liefen die Gäste davon. Es hätte sein können, daß sie in die Stadt noch eine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken beabsichtigten. Ich verzog mich in den Aufenthaltsraum, um zu lesen, zu schreiben und Le Puy bei Nacht zu schauen. Doch es gab mehr, ein richtiges Abendprogramm. Am Nebentisch tagte, geleitet von einem gutaussehenden intellektuellen Guru, eine Art Selbsterfahrungsgruppe. Man las einander Texte und Gedichte vor. Soweit ich später erfahren konnte, sei es ein Abendkurs im kreativen Schreiben an der Sorbonne und der Mann ein bekannter Autor gewesen. Avec esprit et grand future. Mir fielen die einprägsamen Gesichter mit typisch großen gallischen Nasen und Ohren auf. Interessante Gruppendynamik. Mindestens eine der jungen Frauen hatte ein Verhältnis mit dem Leiter. Eine Volksschullehrerin, attraktiv, zurückhaltend. Drei andere Frauen warteten noch ab. Auch dabei war, unklar warum, ein schüchterner Jüngling, Sozialarbeiter vom Beruf, Trommler von Berufung. Es war nicht einfach auszumachen, wo das Fachliche endete und das Private anfing. Hier
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