Bis ans Ende der Welt
lief ein psychologisches Kammerstück, ein Akt, und ich war das internationale Publikum. Die Gruppe kam mit dem Zug aus Paris, wollten einige Tage auf dem Camino wandern und dabei alles penibel kreativ aufarbeiten. Das Gepäck beabsichtigten sie, abwechselnd mit einem Leihwagen zu transportieren. Sie lasen, was sie tagsüber geschrieben haben, der Reihe nach vor. Dann wurde besprochen. Das hieß, der Guru besprach. Oder er spielte den anderen die Bälle zu. Er tat es geschickt und behutsam, damit sich niemand beleidigt oder vernachlässigt fühlte. Meist waren es freie Gedichte. Laissée — loslassen — hieß das Thema an diesem Abend. War das Leben denn nicht herrlich? Ich zog ein Gesicht wie Angela Merkel bei der Lektüre von Nicolas Sarkozy aus Marcel Proust vor dem deutschen Bundestag zum Tag der deutschen Einheit und täuschte schreibend geistige Entrückung vor. Es war meine feste Absicht, den Zuschauerplatz nicht zu räumen. Ich durfte sie nur nicht zu sehr reizen. Sie hätten mich womöglich aufgefordert, selbst etwas Kluges vorzulesen. Daß es so etwas überhaupt noch gab. Einfach toll.
Der nächste Tag fiel auf den Sonntag, und ich besuchte die Messe. Darauf legte ich an diesem besonderen Ort sehr großen Wert, auch war es seit sehr langer Zeit wieder der erste Gottesdienst, den ich besuchen durfte. Auch wenn ich mit der französischen Liturgie noch nicht vertraut war, die Meßfeier hat mich sehr beeindruckt. Dazu trug das Äußere der Kathedrale einiges bei. Danach versammelte man die Pilger zum Gespräch und zum Segen. Das hatte noch den Vorteil, daß man gleich viele der Mitstreiter kennenlernte. Jeder wurde nach seinem Namen, seiner Herkunft und seinem Ziel gefragt. In der Sakristei hatte man sich in das Goldene Buch einzutragen. Es gab Pilgerbücher und einen schönen Stempel mit der Schwarzen Madonna, der Stadtpatronin, in Rot. Und jeder bekam Fürbitten sowie einen Bibelspruch mit auf den Weg. Meiner war aus mir unbekanntem Grund englisch. But the Lord God helps me; therefore I have not been disgraced; therefore I have set my face like a flint, and I know that I shall not be put to shame. [31] Ich hätte lieber einen deutschen oder französischen Spruch. Außerdem sagte er mir nichts, sprach mich einfach nicht an. Warum sollte ich mein Gesicht zum Kiesel machen, wenn der Herr bei mir war? Im Gegenteil, strahlen sollte es wie das von Moses, als er nach vierzig Tagen vom Berg Sinai zurückkehrte, um dem Volk das Gesetz Gottes neu zu verkünden. Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? [32] So spekulierte ich und wollte den Spruch tauschen, dann aber verwarf ich die Idee und ließ es gelten. Vielleicht werde er sich mir noch öffnen, dachte ich, steckte den Papierstreifen ein und vergaß ihn wieder.
Und Stephanie stellte mir gerade Elisabeth und Joanna vor, beide sehr jung und sehr hübsch, was mich freilich sehr leicht vom Propheten Jesaja abbrachte. Es waren nämlich die anmutigsten Jungfern, die mir auf dem Camino begegneten. Elisabeth, zwanzig Jahre, streng katholisch, stammte aus Versailles, wo sie das Lyzeum besuchte. Joanna war sogar erst achtzehn und war nicht mal getauft. Ihre Eltern seien Methodisten, erzählte sie, da werde man erst volljährig getauft. Sie wolle sich aber nach der Pilgerreise taufen lassen, es sei an der Zeit, dann aber doch lieber katholisch. Ihre Pilgerschaft, so schien es mir, war auch eine Art Aufstand gegen die elterliche Autorität. Sie war das zwölfte von dreizehn Kindern und fühlte sich auch in der Elternliebe an zwölfter Stelle. Es war alles neu und spannend für mich, auch dank der aufregenden Umgebung, und ich spürte, daß hier ein neuer Abschnitt meiner Pilgerreise oder gar meines Lebens begann. Bisher agierte ich sozusagen im Verborgenen, wie ein Brigant, der bei Nacht und Nebel auf verlassenen Pfaden durchs Land streicht, nun hing ich plötzlich in einem gruppendynamischen Netz. Dabei war der Umgang mit Mitmenschen nie meine Stärke. Das gestrige Abendessen war mir schon eine Warnung. Für den Anfang, so scherzte ich, war zu hoffen, daß der flotte Umgang mit dem anderen Geschlecht meinem Ruf als Pilger nicht zum Nachteil gereichen wird. Die anwesenden Deutschen schauten schon öfter herüber. Irgendwie streng und verdrießlich, wie es mir schien. So ein alter Kerl, und macht sich gleich an die Mädels ran. Aber die französischen Patres lächelten und nickten gefällig, offenbar sahen sie nichts grundsätzlich falsches darin, wenn man sich für
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