Bis ans Ende der Welt
hübsche Mädchen interessierte. Und auch in den nächsten Wochen, die wir nun zusammen verbringen sollten, versuchte niemand — kein Pfarrer, kein Mönch, kein Herbergswirt — uns zu trennen, nicht am Tag, nicht bei den Mahlzeiten und nicht für die Nacht, auch dann nicht, wenn es räumlich und organisatorisch problemlos möglich oder gar angebracht wäre, so daß wir von nun an nahezu vierundzwanzig Stunden am Tag beisammen waren.
Le Puy hat eine große Pilgertradition. Im Mittelalter war es die zweitgrößte Pilgerstätte nach Chartres. Verehrt wurde die Statue der Schwarze Madonna, die einst vom Ludwig dem Heiligen von einem Kreuzzug aus Ägypten gebracht und in der Französischen Revolution verbrannt wurde. Wichtiger aber scheint mir, daß von hier aus der Jakobsweg zu ersten Mal begangen wurde. Hier nahm die Tradition ihren Lauf, als sich im Jahre 950 der besagte Bischof Godesalc mit einem Haufen frommer Mächtigen auf den Weg nach Santiago machte. Bestimmt trug er keinen Rucksack und Blasen an den Sohlen. Ebenso wie im Jahre 1064 der Bischof Petrus II., und — wenn ich mich nicht irre — auch der Papst Urban II., nachdem er 1095 auf der Synode von Clermont zum ersten Kreuzzug ins Heilige Land aufgerufen hatte. Diesen Sündenfall, der für ganz Europa und Kleinasien noch dramatische Folgen haben sollte und ganze Generationen mit Leid und Elend überzog, konnte er damit bestimmt nicht gutmachen. Den frommen Höhepunkt erreichte man um die Mitte des 12. Jahrhunderts, als die fanatisierten und traumatisierten Massen Hof und Familie im Stich ließen, um vor dem anstehenden Weltuntergang noch ihre Seele zu retten. Genaugenommen, keine schlechte Idee. Zumindest haben sie sich, wie ich heute, für eine Weile dem Zugriff der Reichen, Schönen und Mächtigen entzogen. Menschen, denen man nichts schuldig ist, weil alles, was sie vortäuschen, uns in ihrer Güte und Fürsorge zu geben, von uns stammt, ist und war unser Eigentum, das sie uns nur zuvor raubten.
Die auf einem der Basaltkegel im 11. bis 12. Jahrhundert gebaute dreischiffige Kathedrale vereint romanische, arabische und byzantinische Elemente, was ihr einen besonderen Reiz verleiht. Den Mittelpunkt bildet das Altar mit der Schwarzen Madonna. Nach der Messe werden die Pilger feierlich gesegnet, die große Falltür im Boden gibt die darunter liegende Treppe frei, und durch das gut zwanzig, dreißig Meter hohe Tor treten die Pilger nun ihren beschwerlichen Gang an. Es raubte mir fast den Atem, von unten den riesigen Torbogen als Ausgangspunkt der Via Podiensis zu sehen. Erst hier fühlte ich mich als richtiger Jakobspilger. Alles, was bis hierher war, war nur die Vorbereitung auf das Eigentliche. Eine gute Vorbereitung, so schien es mir, denn der Herr ging die meiste Zeit mit, was immerhin etwas Besonderes gelten dürfte. Ich versuchte gar nicht zu spekulieren, warum. Vielleicht aus Neugier? Immerhin tat er über manches recht interessiert, über anderes ging er aber einfach hinweg. Oder wollte er mich unterwegs beschützen und das Stückchen, wo ich allein nicht mehr konnte, tragen? Eine unverdiente Gnade. Ich tat ja bloß in schwerer Zeit voreilig ein Gelübde und erfüllte es nun. Und bis hierher auch nur zur Hälfte. Ob ich die andere Hälfte schaffen werde, konnte ich hier und jetzt genauso wenig behaupten wie zu Beginn. Es machte mir aber weniger Sorgen, weil ich mehr Vertrauen in den Herrn hatte. In der Überlieferung der Ostkirche wohne Jesus immer noch unter uns und wandere auf der Welt herum. So legte man einst in Rußland zu den Mahlzeiten ein Gedeck mehr auf. Für den Fall, daß der Herr zu Besuch kommt. Ich verstand mich als jemand mit einem extra Teller auf dem Tisch.
Saint-Privat-d’Allier, km 1325
Le Puy - en-Velay liegt am Fuß eines riesigen, von Schluchten zergliederten Vulkanplateaus, das Massif Central genannt wird. Es liegt irgendwo zwischen tausend und achtzehnhundert Meter hoch und umfaßt etwa ein Sechstel der Fläche Frankreichs. Eine gigantische, packende, fast menschenleere Landschaft. Seit Jahren ziehen die Menschen von hier dem Gelde nach — und machen sich noch ärmer. Das französische Zentralmassiv war landschaftlich, spirituell und privat die Blüte meiner Pilgerschaft. Hier war der Herr stets dabei, heiter, gütig und schonend. Wo sich Himmel und Erde berühren, ließ er den Himmel glühen, so daß der Horizont wie eine goldene Krone um uns herum lag. Hätte ich das Geld, würde ich hier ein verlassenes Bauernhaus
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