Bis ans Ende der Welt
jung, doch im Gehen völlig ungeübt. Großstadtmenschen mit Bahnerfahrung. Sie mußten einfach nur kürzere Etappen machen. Doch Stephanie hatte nur die Tage ihres Jahresurlaubs, Joanna wiederum nur ein sehr knapp bemessenes Geld zur Verfügung. Danach bestimmten sie die Länge der Tagesetappen. Sie dachten, wie junge Frauen halt denken, nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen.
Währenddessen genossen ich und Elisabeth den freien Auslauf, den Abstieg und den erneuten Aufstieg durch die Felswand und die herrliche Landschaft ringsum, liefen flink und ausdauernd. Oberhalb von Monistrol entdeckten wir abseits des Weges eine Grottenkapelle. Sie war verschlossen, doch konnte man durch Ritzen im Gestein in das geheimnisvolle Innere hineinspähen. Immer wieder gab es Aussichten ins Tal, auf die eiserne Brücke und das alte Elektrizitätswerk. Unterhalb davon übte eine Touristengruppe mit großen Schlauchboten. Das hätte mir auch Spaß gemacht. Von den freien Wegstellen konnten wir ihre Fortschritte verfolgen. Aus der Höhe sahen sie aus wie Ameisen, die ungeschickt auf einem Blatt krabbeln. Oben auf dem Kamm, auf einer schattigen Lichtung unter Lerchen und Pinien, hielten wir das Mittagslager. Es war einer der Plätze, von den man sich nur ungern trennt. Vorbeiziehende Pilger berichteten, daß Stephanie im Hang noch zweimal stürzte. Ich machte mir Vorwürfe, sie nur mit Joanna zurückgelassen zu haben. Dann aber kam ich mit mir überein, daß man in so steilem Terrain einen Verletzten nicht vor einem neuen Sturz bewahren kann, es sei denn, man würde ihn professionell in einem Bergrettungsschlitten abseilen. Dazu bräuchte man die Rettungsausrüstung und vier Mann. Immerhin hat sie es nun bis nach unten geschafft und war aus der Gefahrenzone sicher heraus. Ich hätte ihr also nicht besser helfen können.
Der Umstand, daß Joanna und Stephanie nun plötzlich zurückblieben, komplizierte allerdings die Beziehung zwischen mir und Elisabeth. Vielleicht war es ihr nicht recht, ganz allein mit mir zu sein. Also engagierte sie Thomas als neue Anstandsdame. Thomas war ein Lehrer aus Kassel, ein netter Kerl in den Dreißigern, aber auch er trug irgendein Kreuz. Er gesellte sich zu uns in der Mittagspause und schien sich in unserer Gesellschaft wohl zu fühlen. Aber wahrscheinlich tat es ihm Elisabeth an. Was mich nicht wunderte, ich kannte das. Auch er war ein Austauschschüler des Deutsch-französischen Jugendwerks, konnte also mit Elisabeth tiefsinnige Gespräche führen. Ich marschierte mit dem Herrn dürftig hinterher und hörte mit einem Ohr dem Gespräch zu. Auf diese Weise übte ich mein Französisch und erfuhr mehr über Elisabeth, als wenn ich sie selbst gefragt hätte. Ich wollte ja nicht aufdringlich wirken. Sie erzählte von ihren drei großen Brüdern, dem Vater, der Arzt war, von ihrem Zuhause gleich neben dem Schloß von Versailles, von dem Garten ohne Zaun, der nahtlos in den Park überging. Der Herr lächelte, Elisabeth war sein Geschöpf, und er hatte Gefallen an ihr. Das Glückskind wurde von allen geliebt, gehätschelt und auf den Arm genommen. Sie lebte an der Sonnenseite. Sie hatte ein liebes, sorglos beglücktes Lachen, durch das ich mich selbst glücklich fühlte. Ich nahm es nur wahr, wenn sie wie jetzt mit Thomas mit anderen sprach. Bei dem kleinen Abstand konnte ich mich daran unauffällig wärmen. Wenn ich an Elisabeth denke, was häufig passiert, so wünsche ich beim Herrn, das Glück und dieses Lachen mögen sie nie verlassen.
Dank Thomas war ich — zumindest für den Augenblick — frei von allen galanten Verpflichtungen und auf mich gestellt. So konnte ich wieder mehr auf den Herrn und seine Welt achten. Ins Gespräch mischte ich mich nur ab und zu. Manchmal blieb ich zurück oder lief ein wenig voraus, um das seltsame Glühen am blauen Horizont zu beobachten. Das gab es sonst nirgends, das kannte ich nicht, es hielt mich fest. Oder ich befühlte Bäume und Steine, um ihre Kraft zu spüren. Oder ich segnete die Kälbchen. So verbrachte ich eine schöne Zeit.
Irgendwann, mitten im Hochwald, achtete ich nicht auf den Weg und verlief mich einer falschen Markierung folgend in einer Kehre. Ziemlich hoch hinauf stampfte ich durch einen verwachsenen Bergbach. Das kristallklare Wasser half mir, den Durst zu stillen, aber das war auch der einzige Trost. Unter Aufbietung aller Kraftreserven kletterte ich über gefallene Bäume und große Granitsteine, bis mir aufging, daß dies unmöglich der
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