Bis ans Ende der Welt
Zigaretten zu erwerben. Bisher sah ich sie noch nie rauchen. Entweder genierte sie sich vor mir, oder sie nahm sich für die Zeit der Pilgerschaft vor, der Sucht zu widerstehen. Nun, damit war jetzt Schluß, das stand fest, aber sie gab sich auch später die Mühe, möglichst nicht in meiner Anwesenheit zu rauchen. Als ob ich was gesagt hätte. Habe ich aber nicht. Statt dessen stellte ich fest, daß sie der berühmten österreichischen Kaiserin Sissi sehr ähnlich sieht, und taufte sie auf diesen Spitznamen um. Der Film mit Romy Schneider ist auch in Frankreich gut bekannt, und Elisabeth fühlte sich geschmeichelt.
Wir zogen schließlich weiter. Doch eher zögernd, weil es uns in der Stadt gut ging. Bald aber waren wir lustig in unserem Element. Beeilen mußten wir uns nicht. Die heutige Etappe maß nur achtzehn Kilometer. Der sandige Weg unter den Sohlen fühlte sich wie ein Teppich an. Der Camino wand sich zwischen struppigen Wiesen und urzeitlichen Granitfelsen dahin, Thymian, Lavendel und eine ganze Anzahl anderer, mir unbekannter Gewächse blühten üppig am Wegrand, alles roch kräftig danach. An manchen Stellen lagerten Tausende Schmetterlinge auf der Erde. Von unseren Schritten aufschreckt öffneten sie ihre Flügel und im nächsten Augeblick erstrahlte alles in einem einzigartigen Kobaltblau, das zu sehen ist, wenn man in einen Kernreaktor hineinsieht. Dann schlossen sie wieder wie auf Befehl die Flügel und wurden nur die üblichen braunen Pfauaugen, wie ich sie von zu Hause kannte. Der Himmel ertrank in einem tiefen, satten Blau, das am Horizont von dem geheimnisvollen Glühen erstrahlte. Man hatte das Gefühl, bloß einen Schritt vom Himmel entfernt zu sein. Ein Sprung nur, man wäre oben und käme nicht zurück. Wir hielten an Kirchen, Kapellen und Kreuzen und sprachen zum Herrn. Wir hielten an Zäunen und redeten mit den Kälbchen. Die aber fürchteten sich vor Sissis Stock, was sie nicht zu bemerken schien. Die Bullen flossen ihr aber Respekt ein.
Ein Aubrac-Bulle ist so ziemlich das imposanteste Rindvieh, daß ich in meinem Leben gesehen habe. Damit meine ich nur Tiere. Ich sah Pilger beim Anblick dieses Geschöpfes mit offenem Mund stehenbleiben oder in Begeisterungsrufe ausbrechen. Vom Wuchs her, ist der Bulle eher gedrungen, doch unglaublich muskulös und vital. Nur gut, daß sie sich für Menschen nicht zu interessieren scheinen. Meist sah ich sie irgendwo im Hindergrund stehen und den Schwanz schwingen wie ein Husar den Säbel. Ich mag Rinder generell nicht, aber das Aubrac-Rind doch. Sein Fell ist glänzend honiggelb, seine Augen ausdrucksvoll und intelligent, sein Maul zart. Am schönsten aber sind die Kälbchen. Von allen Rindern, denen ich unterwegs begegnete, gefiel mir diese Rasse am besten. Vielleicht lag es daran, daß die Tiere den ganzen Sommer frei auf der Weide leben. Sie werden am 23. Mai, dem Tag der Transhumance und meinem Namenstag, auf die Weide getrieben, wo sie bis zum 13. Oktober bleiben. Das Gebirge des Aubrac ist um die tausend Meter hoch und liegt zwischen den Flußtälern des Truyère und des Lot. Es ist bekannt für sein rauhes Wetter. Im Winter liegt hier der Schnee metertief. Dennoch konnte ich in den Pilgerregistern Eintragungen auch vom Januar und Februar finden.
Das Tal der Truyère passierten wir schon am Vormittag. Obwohl nur zu Fuß unterwegs, flogen die unterschiedlichsten geographischen und politischen Formationen rasend schnell vorbei. Zumindest schien es mir so. Irgendwo ganz, ganz weit zurück lag auch der erste Schritt, der erste Tag. Die Tage vergingen, mit ihnen schmolzen die Entfernungen. Berge, Täler, Flüsse, Seen, Landschaften, Länder, Wetterfronten. Ich war froh, nicht erst irgendwo in Spanien den Camino begangen zu haben. Da wäre längst alles vorbei gewesen, bevor ich überhaupt begriff, was passierte. Doch werde ich es überhaupt je können? Während ich in der Siesta halb versunken im samtweichen Moos eines verwunschen Waldes lag, wo alles ins geheimnisvolle grüne Licht getaucht war, dachte ich freudig an die vielen Kilometer, die unendlichen Wege noch vor mir. Es war um so angenehmer, da wir satt waren, in bestem Einvernehmen dahin dösten und keinerlei Not litten. Ganze Haufen Pilger zogen inzwischen an uns vorbei. Manche verdrossen, manche fidel. Darunter auch die Nepal-Amerikaner, François aus Quebec und viele andere, die wir schon kannten. Plötzlich tauchte auch Joanna auf. Sie hinkte etwas, das Knie machte ihr Probleme. Klar, ihr
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