Bis ans Ende der Welt
höchste Punkt liegt bei fünfzehnhundert Metern, irgendwo. Die Wasserscheide passierten wir am Col de l’Hospitalet.
Der Name weist auf ein Templerhospital aus dem 12. Jahrhundert. Davon blieb nach den Religionskriegen nichts mehr übrig außer einer Quelle, die dem heiligen Nothelfer Rochus gewidmet ist und gegen hartnäckige Wunden und Augenleiden gut sein soll. Der Heilige, meist martialisch mit Wunden und Pestbeulen überhäuft, ersetzt in dieser Gegend als Hausheiliger den heiligen Jakobus. Die Legende erzählt, er stamme aus Montpellier, sei 1317 nach Rom gepilgert und habe sich und andere Pestkranke durch Wunder geheilt. Es war eine gute Stelle, ein wenig an die Mutter und andere Kranke zu denken und für sie zu beten. Ich hatte eine ganze Reihe solcher Anliegen von zu Hause mit- oder später unterwegs aufgenommen, und ich glaube an die Kraft des Gebetes. Pillen, Ärzte und die Gerätediagnostik sind nicht schlecht, aber wenn sie am Ende sind, dann gibt es noch Gebet und Gelübde. Erst als wir weitergingen, fiel mir ein, daß ich mich selbst völlig vergaß. Seit einiger Zeit nämlich wurden meine Augen immer schlechter, und es war nicht nur die Frage einer neuen Brille. Ich war deswegen ziemlich besorgt, und wenn ich mich nun so selbstlos vergaß, so wunderte ich mich darüber.
Plötzlich wimmelte es hier von Pilgern, alles geriet in Bewegung, und wir zogen weiter. Elisabeth schien etwas von ihrer Energie eingebüßt zu haben und suchte telefonisch nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Aber überall vergeblich, alles war bereits besetzt, in einem Fall schien die Wirtin betrunken zu sein. Wir gaben auf und verbrachten eine faule Siesta in einem verlassenen Bauernhof. Ich las, Elisabeth versuchte braun zu werden, und Thomas schlief unter dem Kastanienbaum. Das war keine so schlechte Idee, denn es sah so aus, als ob wir heute keinen Platz zu schlafen finden sollten. Alles schien ganz normal und absolut ereignislos. Ein stinklangweiliger Pilgeralltag. Kaum wieder unterwegs, fing Thomas an, sich Sorgen um mich und Elisabeth zu machen. Er möchte künftig nicht mit uns gemeinsam, sondern separat schlafen, um uns nicht zu stören. Mehr sagte er nicht. Das fand ich etwas seltsam, weil ich dafür keinen Anlaß sah. Zumindest habe ich ihm, wie ich hoffte, keinen gegeben. Soweit ich wußte auch Elisabeth nicht. Wie kam er denn darauf? Freilich achtete ich auf Elisabeth bei jedem Schritt, und sie kümmerte sich umgekehrt auch um mich, aber das war schon alles. Und seit Thomas da war, nahm ich mich noch mehr zurück. Er hatte absolut keinen Grund, sich übergangen oder gar überflüssig zu fühlen. Ich versuchte ihm zu erklären, daß seine Absicht Elisabeth in Verlegenheit bringen wird. Sie war eine Jungfrau, sehr religiös und traute sich offensichtlich nicht mit mir allein. Egal warum. Ich respektierte sie, wie sie war, wollte sie nicht anders haben. Ich fand es schön, daß es jemanden wie sie gab. Sie war eine Schönheit und auf jemanden wie mich nicht angewiesen. Es war auch ein großer Altersunterschied zwischen uns. Ich versuchte es Thomas so irgendwie zu erklären und seine Gefühle, gleich wie sie waren, nicht zu verletzen. Er hörte sich das ohne Widerspruch an, und ich hielt die Sache zwar nach wie vor für seltsam, dennoch für erledigt. Es war aber nicht erledigt, nur für heute blieb noch alles, wie es war.
Aumont-Aubrac, km 1395
In der Frühe begleitete uns Thomas noch bis Saint-Alban-sur-Limagnole, dann aber erklärte er abrupt, er erwarte Freunde aus Bremen zu Besuch und müsse sich nach der Rückfahrt erkundigen. Die Rückfahrt schien ihm plötzlich sehr wichtig. Elisabeth sagte gar nichts dazu, ich aber machte mich um ihn Sorgen. Irgendwie klang darin eine Traurigkeit mit, die mich rührte. Ich konnte mich nicht ganz von der Vermutung frei machen, Elisabeth und ich wären der Auslöser. Meine mangelnde soziale Kompetenz machte sich wieder bemerkbar. Nie werde ich meinen Nächsten verstehen. Ich prüfte mein Gewissen, fand aber nichts, fragte also den Herrn, aber er zuckte nur mit den Schultern. Was immer Thomas bedrückte, ich werde es vermutlich nie erfahren. Gestern waren wir noch die drei Musketiere, heute ging einer enttäuscht davon.
Trotzdem war es uns irgendwie leicht. Wir taten, als ob nichts wäre, bummelten leger durch die Stadt, sahen uns in aller Ruhe alles an, kauften ein paar Kleinigkeiten und tranken einen Aperitif. Elisabeth hat sich sogar so weit gehen lassen, eine Packung
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