Bis ans Ende der Welt
liegt, kann nicht verborgen bleiben. [35]
La Clauze, km 1352
Ich erfreute mich meiner Rumpelkammer nicht lange allein. Mitten in der Nacht ließ man noch François aus Quebec herein. Wer weiß, wo er sich noch um diese Zeit herumtrieb. Sauges, die Heimat des Rotkäppchens und der Bête du Gévaudan , lag nur einige Kilometer von hier entfernt. Eine ziemlich rauhe Gegend war es da draußen, in der ich ungern nachts herumirren würde. Von 1764 bis 1767 zerriß da eine wie auch immer geartete Bestie über hundert Frauen und Mädchen, so daß sich sogar der französische König der Sache annahm und ein Jagdkommando schickte. Eine mysteriöse Geschichte, die schließlich damit endete, daß man einem großen Wolf die Schuld in die Pfoten schob. Ein Rotkäppchen, das den Wolf überlistete, gab es wohl. Wenn man meinem Französischlehrbuch glauben wollte. Die originelle rote Kappe, wie man sie auf den Bildern bewundern kann, ist die Jakobinermütze. Ein riesiger, roh aus Holz gehauener Wolf, blickt heute von einer Anhöhe hungrig auf Souges hinunter, vom Rotkäppchen gibt es aber keine Spur. Eine gute Weile nervte ich alle mit der Bête du Gévaudan . Das Untier paßt einfach zu gut in diese Landschaft.
Schon im Morgengrauen schwärmten dann die Pilger wie verabredet von ihren Schlafplätzen aus, um nichts vom Tag zu verschwenden. Der Ort hätte es verdient, besucht zu werden. Vermutlich war es früher eine Festung. Ein schiffsartiger Bau mit einer Grünanlage obenauf, der hier schroff über dem Tal aufragt, ist schon fast der ganze Ort. Unsere Herberge lag noch draußen vor der Schutzmauer, und zur Besichtigung blieb uns keine Zeit und Energie. Das mußte akzeptiert werden, der Pilger ist eben kein Tourist. Zum Trost nahm ich mir vor, diese Gegend irgendwann später einmal als Urlauber zu besuchen, um die alten Erinnerungen mit mehr Komfort angenehm zu ergänzen. Solche Vorsätze blieben in meinem Leben allerdings oft unerfüllt. Wenigstens nahmen wir uns die Zeit, beim Frühstück mit den Wirtsleuten ausführlich zu plaudern. Es war ein wirklich anregendes Gespräch, und wir starteten in den herrlichen Tag voll guter Gedanken. Wegen Joanna und Stephanie, die offenbar an Kraft verloren und Schonung nötig hatten, wurde das Tempo etwas kommoder, soweit Elisabeth ihre Energie eben zügeln konnte. Ein Fohlen halt. Sie gab mir Französischunterricht. Es war darüber hinaus eine Gelegenheit, uns persönlich näher zu kommen.
Als wir dann eine uralte Rotunde hoch oben über dem Tal des Allier erreichten, herrschte da schon ein reger Verkehr wie vielleicht Sonntags auf der Karlsbrücke. Der Führer nennt an dieser Stelle eine Jakobus-Kapelle aus dem Jahre 1328. Das war sie dann wohl, würde aber der eindrucksvollen Schlichtheit wegen auch ins 11. oder gar 9. Jahrhundert passen. Auf jeden Fall gehört diese Stelle zu meinen Lieblingsbildern. Ich hätte mir etwas Ruhe und Meditation gewünscht, hätte gerne eine Weile still ins Land geschaut, aber es trafen ständig neue Pilger ein, liefen in Aufregung über so viel Anmut hin und her und fotografierten um die Wette. Auch die zwei Nepal-Amerikaner waren da, fit und zäh wie zwei Ledermokassins. Also machten wir uns auf zum steilen Abstieg ins Tal, gute fünfhundert Höhenmeter auf dieser Seite hinunter, dann von Monistrol-d’Allier wieder dasselbe hinauf. Der Hang war so steil, daß man sich vom Baum zu Baum herablassen mußte. Landschaftlich war es heute wohl einer der schönsten Tagesetappen überhaupt. Leider stürzte Stephanie ziemlich schwer und hätte vielleicht auch tot sein können, kam jedoch mit einem Schock und übel abgeschürften Arm davon. Ich leistete ihr erste Hilfe, so gut ich konnte, reinigte die Wunde und verband sie. Ihr geschundenes, dünnes Ärmchen rührte mich fast zu Tränen. Gebrochen war es nicht, nur stark geprellt, aber viel fehlte nicht. Wegen des Schocks brauchte sie eine gute Weile Ruhe. Ich vermutete nämlich noch eine leichte Hirnerschütterung. In Paris wäre das gewiß ein Fall für den Rettungswagen. Joanna, die auch nicht mehr sicher auf den Beinen stand, wollte bei ihr bleiben. Das war mir recht, sonst hätte ich selbst da bleiben müssen, und Joanna war inzwischen so langsam geworden, daß sie uns aufhielt. Wir ließen beide mit einem relativ guten Gewissen zurück. Unten in der Stadt gab es einen Gîte, in dem sie jederzeit unterkommen konnten. Als wir weitergingen, glaubte ich, sie nicht mehr wiederzusehen. Beide waren aus Paris, zwar
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