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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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Camino sein konnte. Die meisten Pilger würden hier das Leben aushauchen. Ende der Laufbahn. Ich mußte den ganzen unangenehmen Weg wieder nach unten steigen, kam naß und erschöpft unten an und hatte einiges zu tun, um Elisabeth und Thomas wieder einzuholen. Ich glaube, der Herr lachte sich einen über meine Einfalt. Elisabeth aber wartete auf dem nächsten Rastplatz. Es war ein romantischer Ort mit Tischen und Bänken und einer Feuerstelle auf einem Felsvorsprung hoch über der Schlucht gelegen. Hier hätte ich gerne länger verweilen wollen, aber Elisabeth machte sich gleich aus dem Staub. Offenbar wollte sie nur sichergehen, daß ich nicht verloren ging.
    Später zogen wir wieder vereint durch Bergwiesen, vorbei an aufregenden, unglaublich muskulösen und vitalen Aubrac-Bullen, an Kälbchen mit hohen, dünnen Beinchen, braunen Kulleraugen und zarten Mäulern, die sich neugierig an den Weg drängten. Wir öffneten viele Gatter und sprangen über unzählige grünschimmernde Kuhfladen. Manchmal standen große Granitfindlinge herum, die der Gegend etwas Vorzeitliches, Verträumtes, Verwunschenes verliehen. In einem Hausgarten am Wege tranken wir aus Durst und Übermut zwei Flaschen exzellenten Weißwein. Zu meiner Überraschung unterstützte uns Elisabeth tatkräftig bei dem wohlgefälligen Vorhaben. Wir nahmen uns viel Zeit, und erst, als es nicht mehr aufzuschieben war, machten wir uns wieder auf den Weg. Durch den Weinkonsum animiert, fühlte ich mich geradezu virtuos. Nichts drückte, nichts zwickte. So hätte es ohne weiteres bis nach Santiago weitergehen können. Gutes Essen, guter Wein und hübsche Mädchen. C’est la vie, leben wie Gott in Frankreich. Übrigens kennen Franzosen das Sprichwort nicht. Vor lauter Leichtsinn erbot ich mich im nächsten Dorf einer jungen hübschen Norwegerin, die Rucksackriemen korrekt einzustellen, was eine ganze Menge Fummelei an ihr erforderte, und sie half mir kein bißchen an den Stellen, wo ich auf keinen Fall hinlangen wollte. Ich nahm es arglos hin, machte Witze, während Thomas und Elisabeth daneben standen und alles genau beobachteten. Sie bedankte sich lieb und ging weg, während wir noch ein wenig das Dorf unsicher machten. Thomas wollte Elisabeth wohl ein wenig provozieren und fragte sie, ob sie sich von mir auch so befummeln lassen würde. Was mich, ehrlich gesagt, nicht wenig entsetzte, weil ich einen solchen Eindruck — bei ihr vor allem — nicht erwecken wollte. Zunächst wies sie sittsam verlegen solch einen Frevel von sich. Dann aber dachte sie nach und sagte tatsächlich: „Peut-être.“ Bei aller Eitelkeit, es klang irgendwie ernst, und an der Reaktion von Thomas sah ich, daß ich mich nicht verhört habe. Ich lenkte die Sprache auf ein anderes Thema, und dem Herrn versprach ich für die Zukunft etwas mehr Demut.
    Diesem herrlichen Tag beendeten wir in einem privaten Gîte, der ganz passend La Vie est Belle hieß. Es war eine originell und aufwendig umgebaute Bauernkate am Waldrand, mit Kamin und einigem alten Mobiliar. Alle hier anwesende Pilger waren praktisch schon alte Bekannte, die zwei Nepal-Amerikaner mit eingeschlossen. Sie schienen eine feine Nase für gute Übernachtungsplätze zu haben. In guter Runde genossen wir ein exzellentes Menü mit Wein und Käse in Fülle, und später las ich in einem bequemen Sessel noch in der Bibel und schrieb das Tagebuch. Der Herr sah dem gefällig zu und ließ mich nicht fallen, als ich an der steilen Holztreppe in Wollsocken ausrutschte. Ich wäre gute drei Meter tief gestürzt und damit aus dem Rennen. Draußen fiel Nebel in Schwaden, und am Waldrand heulte die Bête du Gévaudan . Es war gut, ein Dach über dem Kopf und einen Riegel an der Tür zu haben. Ich mußte an Joanna denken. Sie wollte, um Kosten zu sparen, ausschließlich im Zelt übernachten. Bis nach Compostela.
Le Rouget, km 1377
    So schöne Plätze wie hier müßte man eigentlich länger genießen können, aber der Pilger hält an nichts fest. Der Camino zieht ihn fort und fort. Komfort, gute Mahlzeit und eine erholsame Nacht hatten wir hier, aber am Morgen liefen alle weg, als ob dies nur eine abgebrannte Scheune gewesen wäre. Die meisten sahen sich nicht einmal um. Vor uns lag eine Hochlandschaft um die tausend Meter über dem Meeresspiegel mit viel Rindern, kaum Menschen und keinerlei Geschäften oder Kneipen. Die fünfzig Kilometer zwischen den Flüssen Allier und Truyère bestehen aus einem Gebirgszug, der Margeride genannt wird. Der

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