Bis ans Ende der Welt
und hätte sie vor Mitgefühl küssen können. Sie war sehr tapfer. Immer wieder machten wir dann eine Pause, sie erholte sich und wurde wieder fröhlich. Unterwegs erzählte sie mir von ihren zwölf Geschwistern und den Eltern, und wie es ist, wenn fünfzehn Personen in Urlaub fahren. Es hörte sich an wie „Kevin allein zu Hause“. Um nicht ein Kind unterwegs zu vergessen, banden sie die Eltern mit einer Schnur wie eine Kamelkarawane aneinander. Es gab kein Taschengeld, und man war nie für sich allein. Joannas großer, doch unerreichbarer Traum als Kind war, ein eigenes Zimmer zu haben. Ich hatte keine Geschwister und hätte mir welche gewünscht, aber zwölf Geschwister, soweit verstand ich Joanna, waren entschieden viel zu viel. Letzten Endes hatte man dann keine Eltern, weil diese sich so vielen Kindern gar nicht widmen konnten. Joanna jedenfalls fühlte sich vernachlässigt. Um das Geld für die Pilgerreise zu verdienen, arbeitete sie bei einem jüdischen Ehepaar, das einen kleinen Kunstversandhandel betrieb. Für lächerliche drei Euro die Stunde! Als sie einmal eine Vase fallen ließ, mußte sie den Verkaufspreis von zweihundert Euro voll bezahlen. Samt Mehrwertsteuer. Da hätte ich sie schon wieder küssen mögen. Ich überlegte, daß wir sie mit Sissi zusammen eigentlich hätten durchbringen können. Wenn nur ihr Knie nicht wäre. Es versprach nichts Gutes. Die Schmerzen dauerten schon viel zu lange, hörten auch im Ruhezustand nicht völlig auf, und das Kniegelenk fühlte sich warm an. Das waren sichere Zeichen einer Entzündung. Sie hätte eine oder zwei Wochen Ruhe nötig gehabt.
Der Weg war schwierig und ansteigend. Eine neue Wasserscheide von fast vierzehnhundert Meter lag morgen vor uns. Ständig kletterten wir über Kuhgatter. Als es nicht mehr so weiterging, teilten wir unter uns ein paar Dinge aus Joannas viel zu schwerem Rucksack auf, bis er ganz leicht war. Aus irgendeinem Grund schleppte sie noch eine unhandliche Gurttasche mit. Ich trug sie eine ganze Weile für sie und fand es sehr unbequem. Ich versuchte, auf sie einzureden, daß sie die Campingausrüstung nach Hause schickt, aber sie blieb stur. Sie müsse draußen schlafen, weil sie kein Geld hat, und dazu brauche sie all die Dinge. Was aber nutzte ihr gespartes Geld, wenn sie nicht weiter konnte? Ich argumentierte umsonst, Joanna hatte ihren eigenen Kopf. Elisabeth ließ mich den dummen Kavalier spielen, marschierte indessen zehn Meter vor uns und langweilte sich damit, die Kälbchen mit ihrem dicken Stock zu pieken. Das machte mich nervös. Habe nicht der Herr die Tiere dem Menschen anvertraut, damit er gerecht über sie herrsche? Wären wir schneller, käme Sissi nicht auf solchen Unsinn. Aber ich brachte es einfach nicht fertig, Joanna in der Wildnis zurückzulassen. Ich lasse nie jemanden zurück. Mit Mühe und Not konnten wir Thomas und seine Freunde vor dem Ende ihrer Mittagspause einholen. Sie warteten bereits anderthalb Stunden auf uns und waren gerade dabei aufzubrechen. Thomas beschäftigte die Rückfahrt. Die am nächsten Tag geplante Etappe von zweiunddreißig Kilometern schien ihm schon zu viel. Sein Freunde machten jedoch einen sympathischen Eindruck. Sie blieben mit uns, bis sich Joanna etwas erholte, und halfen uns ein wenig mit ihr. Ich und Elisabeth waren schon ziemlich erschöpft, Joanna zu motivieren. Wir nutzten gleich die Gelegenheit und stürmten voraus. Nur so, als Auslauf.
Das Problem war ja nicht so sehr das Gehen selbst, als vielmehr das Gewicht, das auf dem Rücken lastete. Mußte man langsamer gehen, als die eigene Gehgeschwindigkeit gebot, fühlte man sich gleich doppelt so schwer beladen. In dieser Hinsicht herrschte auf dem Camino ein strenger Geist. Wer zu schwach war, um mitzukommen, wurde einfach zurückgelassen. Vielleicht war es eine Art Selbstschutz. Meist mußte man selber alle Kräfte aufbieten, um die Etappe zu schaffen, und dann noch andere durchzubringen? Dazu hatte man einfach keine Kraft mehr. Und nie wußte man, wann der letzte Tropfen das eigene Faß zum Überlaufen bringt, wann der abendliche Gelenkschmerz zum chronischen Fall, wann die harmlose Blase zu offener Fleischwunde wird. Ein paar Pfund mehr im Gepäck konnten der Auslöser sein. Dann war man ja selbst gescheitert. Und wenn das passiert, weinen die meisten. Und nicht nur junge Mädchen, auch alte Männer. Aus irgendeinem Grund ist das Scheitern auf dem Camino ein persönliches Drama. Die Krankenschwester Margret, die ich seit
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