Bis ans Ende der Welt (German Edition)
ich fast nichts davon. Nun aber fing der seltsame Pole laut zu schimpfen an, über die Gesellschaft in Frankreich uns mit eingeschlossen, die sich alles gefallen lasse. Alles wolle man hier ve r bieten, alles kontrollieren und so weiter und so fort. Was als Gedanke gar nicht so abwegig ist, doch von uns in dieser konkreten Situation nicht so gesehen wurde. Als Gäste hatten wir die allgemeinen Regeln in der Herberge zu respe k tieren, ob es uns gefiel oder nicht, und warum sollte zum Beispiel die schwang e re Freundin von Thibaud sich von einem Süchtigen, dem die zehn Schritte vor die Haustür zu viele waren, sich einräuchern lassen? Plötzlich wurde die Sti m mung gedrückt, die Lage irgendwie bedrohlich. Man merkte es sofort, auch wenn sich nach außen nicht viel tat. Die Gruppe zog sich zusammen, man fi n gerte an den Funktelefonen herum, Michèle verkroch sich in die Ecke und mac h te große, ängstliche Augen, als der Herbergsvater mit den Les Fous , die er irgendwo auf der Straße aufgelesen hat, plötzlich hinein kam und den Mann s o fort ohne Umschweife hinausschmiß, was auf alle, doch am meisten auf die Les Fous , großen Eindruck machte. In der Direktheit und Barschheit kam es mir zwar etwas unchristlich vor, doch erzählte der Wirt, dies sei ein stadtbekannter Irre, der sich schon seit geraumer Weile in der Gegend herumtreibt, scheinbar als Pilger Speise und Unterkunft von den Hausbesitzern einfordert, und wenn zurückgewiesen, ihnen droht und sie beschimpft. So war meiner und der andren Eindruck gar nicht falsch. Der Typ hätte ja alles Mögliche anstellen können. Und in der heutigen Zeit hatte man sowieso fast überall mit Frust, Aggression und Wahn zu rechnen, konnte sich nie ganz sicher fühlen oder sinnvoll aus eig e ner Kraft verteidigen. Ich dankte dem Herrn für den Beistand, doch er kümmerte sich nicht darum und folgte dem Mann, der noch eine geraume Weile durch die Straßen zog, an den Häusern klingelte und schimpfte. Wir sahen es, als wir ei n kaufen gingen. Rechtzeitig bogen wir in eine Seitenstraße, um ihm nicht bege g nen zu müssen. Später kochten wir gemeinsam und aßen zu Abend, und alles lief bestens, doch die Stimmung wurde nicht mehr wie zuvor, auch wenn ni e mand mehr über den seltsamen Polen sprach. Und für die Nacht sperrte der Wirt die Eingangstür ab.
Arzacq-Arraziquet, km 2016
Dank der getrennten Zimmern konnten die zwei Verrückten aus Elsaß-Lothringen nun scheinbar völlig unproblematisch um halb vier nachts in den Tag starten, ohne jemanden zu wecken. Sie verschwanden leise, doch nicht spu r los, da sie gleich hinter der Stadt an einer Straßenbaustelle den Weg verloren und telefonisch den Wirt weckten, um ihn danach zu fragen. Ein starkes Stück, es sei draußen noch völlig dunkel gewesen, mitten in der Nacht sozusagen, e r zählte er uns brühwarm zum Frühstück, um uns vor dem anstrengenden Marsch aufzumuntern. Ich beschloß daraufhin, mir noch einmal die CD mit dem him m lischen byzantinischen Gesang der Sœur Marie Keyrouz anzuhören, während die anderen nach und nach aufbrachen. Das zahlte sich dann irgendwie aus. Denn als allerletzte tauchte die schöne Michèle auf, trödelte schläfrig herum, doch als ich schon am Weggehen war, wollte sie unbedingt mit mir marschieren. Imme r hin ließ sie dafür die Hälfte ihres mageren Frühstücks stehen. Warum denn, weiß ich nicht, denn wir haben zuvor kaum ein paar Worte miteinander gewec h selt. Aber ich sagte nicht nein, denn egal, wie man es dreht und wendet, sie war eine Wucht und Schau, und wenn man mir ihr unterwegs war, so mußten sich Männer, die man gerade passierte, bestimmt am nächsten Baum festhalten, weil ihnen die Knie schwach wurden. Na ja, vielleicht bis auf den älteren Deutschen, der uns hinter der Stadt mit atemraubender Geschwindigkeit einholte und gleich wieder verließ, weil er angeblich nie unter sechzig Kilometer am Tag lief, und wir ihm zwangsläufig wie Schnecken vorkommen mußten. Dabei wäre mir seine Anwesenheit als Ablenkung zu Michèles weiblichen Reizen durchaus willko m men. Doch der Wahn macht resistent der Schönheit gegenüber, und der Mann, ein Lehrer in seinen Fünfzigern, entfernte sich ebenso rasant, wie er kam. Noch von weitem konnte man die kleinen Staubwölken an seinen Fersen hochsteigen sehen. Ich habe ihn nie mehr getroffen, was mich überhaupt nicht überraschte. „Speedy Conzales, die schnellste Maus von Mexiko, war hier. Hat man ihn e r kannt, ist er längst
Weitere Kostenlose Bücher