Bis ans Ende der Welt (German Edition)
weitem sehen. Als ich aber näher kam und die Straße unter ihm erreichte, wurde er zum Berserker. Wieder und wieder warf er seine gut fünfzig Kilo Kampfgewicht gegen den wackligen Drahtzaun, der bald schief über der Fahrbahn hing. Es war offensichtlich, daß der Hund wußte, was er tat, und sich trotz des beachtlichen Höhenunterschieds gute Chancen auf Beute machte. Ich war mir dagegen nicht ganz sicher, ob ich mit dem dünnen Pilgerstab diese wütende Bestie aufhalten könnte. Dazu hätte es eher eines Schrottgewehrs gebraucht. Für alle Fälle schickte der Herr ein Auto, zwar nur ein kleines, doch hätte der Köter seinen gewagten Sprung getan, so wäre er g e nau davor gelandet. Das hätte ihn wohl nicht ganz aufhalten können, mir aber eine Gelegenheit gegeben, die Verwirrung irgendwie zu meinem Vorteil zu nü t zen. Doch solche Dinge passierten äußerst selten. Und sprach man die Einheim i schen selber an, so erwiesen sie sich meist freundlich und nett und zeigten keine Absichten, ihre Hunde auf die Pilger zu hetzen. Und in Aire-sur-l’Adour gab es sogar am Abend in der Kathedrale einen Pilgerempfang.
Plötzlich waren wir da, und es war eine nette kleine Stadt, gutbürgerlich, g e pflegt und relativ modern, obwohl es sich um eine uralte Ansiedlung erst der Kelten, dann der Römer handelte. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches wurde sie im fünften Jahrhundert zur Hauptstadt der Westgoten und im Mittelalter zu einer wichtigen Station der Jakobspilger. Heute verleiht ein ries i ges Forschungszentrum für Luft und Raumfahrt der Stadt Bedeutung. So waren die auffällig hochnäsigen Umgangsformen dieser Gegend womöglich auf den Zuzug der besser qualifizierten Großstädter zurückzuführen.
Wir kamen direkt im Zentrum in einem netten privaten Gîte unter. Im Erdg e schoß, wo sich einst ein Laden oder ein Cafe befanden mag, war nun ein ang e nehm großer Aufenthaltsraum untergebracht, zum Hof hin gab es eine geräum i ge, gut ausgestattete Küche. Schöne, holzverkleidete Gästezimmer und zwei große, luxuriöse Badezimmer lagen in den zwei Stockwerken darüber. Mir übe r ließ man gar ein Einzelzimmer. Den Grund für diese gar nicht so selbst ver ständliche Großmut, die irgendwie auf dem Konsens der Mitpilger beruhte und sich noch paarmal wiederholte, verstand ich nicht ganz, war dafür jedoch sehr dankbar. Man schien mich zu mögen. Über den Gîte herrschte ein sympath i scher, origineller Mensch, mit dem man gute, offene Gespräche führen konnte. Es gab Bücher, Bilder und viele CD mit geistlicher und anderer Musik. Ich ler n te hier die byzantinischen Gesänge der Schwester Marie Keyrouz kennen, die seitdem zu meinem Lieblingsrepertoire gehören. Eine unzeitliche Musik wie aus einer anderen Welt. Was sie wahrlich auch ist.
Wir alle ließen uns von der guten Stimmung anstecken, planten das Abendessen und fühlten uns rundum wohl, bis es zu einem seltsamen Vorfall kam. Während der Abwesenheit des Herbergsvaters spazierte plötzlich ein Mann herein, der sich mit Pilgerstab und umgehängten Jakobsmuscheln als Pilger ausgab und U n terkunft begehrte. Es war ein großer, stämmiger Kerl, ein Pole, wie wir gleich erfuhren, noch relativ jung und energisch. Doch wirkte er aufdringlich, ja sogar aggressiv. Alle Plätze waren schon belegt, das wußten wir. Aber der Mann ließ sich nicht abweisen, machte es sich gleich bequem, legte eine Schallplatte auf und versuchte uns ins Gespräch zu verwickeln, was nicht so schlimm wäre, doch ohne zu merken oder merken zu wollen, daß wir bereits ein anderes Gespräch führten. Man versuchte also, ihn höflich zu ignorieren und dabei nicht allzu sehr zu verletzen, was ich wegen der schwachen sozialen Kompetenz und den mäß i gen Französischkenntnissen gerne den anderen überließ. Sollten sie in dem Saft schmoren. Aber ich fühlte mich irgendwie nicht wohl und blieb wachsam. Forsch und verachtend sah der Mann in die Pilgerrunde, die ihm so wenig W i derstand bot. Der Konflikt entzündete sich erst an seiner Rauchsucht. Zu dieser Zeit galt das Rauchen in den besseren Kreisen sowieso als nicht mehr gesel l schaftsfähig, verstieß sozusagen gegen gute Sitten und war in fast allen Gîtes schlicht unerwünscht. Die meisten Pilger rauchten gar nicht und wenn schon, dann doch lieber unauffällig irgendwo draußen. Sehr unauffällig, muß ich sagen. Sissi und Joanna zum Beispiel rauchten, und obwohl ich vierundzwanzig Stu n den am Tag mit ihnen zusammen war, merkte
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