Bis ans Ende der Welt (German Edition)
sah hier aus wie vor einigen Wochen noch in der Schweiz – Regen, Nebel, Kälte, Kühe, Mist und Berge. Die Feststellung half mir kein bißchen, also biß ich die Zähne zusammen und stampfte weiter auf dem schlammigen Pfad, bis der Dreck spritzte. Das war sowieso ohne Bedeutung, weil sich die Nässe inzwischen bis zum Bund hochzog. Die nasse Unterhose rieb unangenehm an den beweglichen Teilen. Kein Haus, kein Mensch soweit man sehen konnte, was aber nicht sehr weit war, weil alles im Nebel und Hal b dunkel lag. Wenigstens war ich wieder auf dem Camino, die Wegweiser standen an jeder Ecke, aber wann ich Aroue erreichen würde, wo laut dem Führer der nächste Gîte sein sollte, ließ sich absolut nicht vorhersagen. Außer der eing e zäunten Wiesen gab es keine Anzeichen der Zivilisation. Mir blieb wieder nichts anderes übrig, als anzuhalten und mit Bedacht den bereits erwähnten großen, freien Schritt zu machen, der den ganzen Unterschied zwischen dem Krüppel im Rollstuhl und dem gesunden, kraftvoll durch nassen Dreck stampfenden Me n schen ausmachte. Danach hätte es ruhig noch mehr regnen können, ich war frei.
Und da ich nicht mehr im Streß war, stieß ich bald auf einen alleinstehenden Bauernhof. Ein vom Wasser triefender handgeschriebener Zettel am Tor lud zur Übernachtung ein, und es zog mich sogleich magisch durch den Garten zu den erleuchteten Fenstern, die Wärme und Trockenheit suggerierten. Es war ein ziemlich kleines Häuschen, aber sehr gemütlich, und ein paar Französinnen, die ich vom Camino bereits kannte, haben sich es da bereits gemütlich gemacht. Ein Platz wäre gerade noch frei, meinten sie einladend. Am warmen Herd sitzend, schwankte ich hin und her. Einerseits hatte das Weitergehen nach so einem Tag, in so einem Wetter, keinen Sinn. Andererseits war die Verabredung in Saint-Jean-Pied-de-Port kaum noch einzuhalten. Es war auch eine ziemliche Strecke, die ohnehin zwei tüchtige Tagesetappen erfordert hätte, und durch den Irrweg von heute lag ich schon mächtig hinter dem Soll zurück. Ich erklärte den netten Frauen meine Plage, stand auf und trat in die beginnende Dunkelheit hinaus. Nach zwei Schritten kam ich zur Besinnung, machte kehrt und blieb.
Es war wohl die beste Entscheidung, die ich machen konnte, denn bei Nacht und Wetter durch die baskischen Hügel wegen einer Verabredung zum Abendessen zu irren, wäre idiotisch gewesen. Vielleicht wollte mich der Herr heute abend gerade hier haben, aus Gründen, die mir gleich sein konnten. Sonst hätte er mich nicht wie die sprichwörtliche blinde Kuh herumgeführt. Und mir tat es nicht weh. Das Abendessen war gut, der Wein auch, und wir haben uns gut unterha l ten. Wie immer an solchen Abenden hatte ich das Gefühl, mit alten Freunden beisammen zu sitzen. Ich erzählte von dem alten Franzosen, dem ich am Tag zuvor begegnete, als er mit einem Reisigbesen den Camino vor seinem Haus kehrte. Ich grüßte, wie ich jedermann unterwegs grüßte, und wir kamen ins G e spräch. Und als er merkte, woher ich komme, erzählte er mir, wie er während des Krieges als gefangener Jagdpilot in Bremen bei Messerschmitt in der Flu g zeugentwicklung arbeitete. Fast das ganze Team habe aus Kriegsgefangenen b e standen, der Chefingenieur sei gar ein Russe gewesen, und sie seien ohne B e gleitung und Zwischenfälle mit den neukonstruierten Flugzeugen bis nach No r wegen geflogen, als ob es keinen Krieg und keinen Völkerhaß gegeben hätte. Er erzählte das ohne Groll oder Bitterkeit, luftig und charmant, als ob das ein au f regendes Urlaubserlebnis gewesen wäre. Dann wünschte er mir „ Bon courage, mon ami!“ und fegte weiter den Camino. Und weil alle am Tisch schön zuhörten und mir das Thema so wichtig war, legte ich noch nach, wie es den Oberen doch immer wieder gelinge, aus Machtsucht, Eitelkeit, Raffgier oder gar Langweile die Völker aufeinender zu hetzen und sie dann später die Zechen bezahlen zu lassen. Und wie es mir das Herz zerreißt, wenn ich an den Kriegssäulen die N a men der Gefallenen und Verschollenen lese, so daß ich mich nicht mehr halten kann und weinen muß, als ob einer von ihnen ein geliebter Mensch wäre, der einzige, der wichtigste im Leben, dessen Verlust ich nie ganz überwinden we r de. Und auch deshalb, weil diese Verworfenen für hohe Interessen, die man i h nen als ihre eigenen einredete, leichtgläubig, leichtfüßig töten gingen und dabei vielleicht ihr Seelenheil verloren, während das Böse sich erfüllte. Da hielt
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