Bis ans Ende der Welt (German Edition)
sechs Gehstunden erreichte ich Viana , die dritte großartige Stadt an diesem Tage und mein Eta p penziel. Sie trägt den stolzen Titel Muy Noble y Leal Ciudad de Viana Cabeza del Principado de Navarra , was bei nur viertausend Bewohnern den Nichtspan i ern wohl etwas aufschneide risch klingen mag. Aber während ein gleich großer Ort in Mitteleuropa nichts als ein schnödes Kuhdorf wäre, war das hier wieder ein Juwel, das jede europäische Metropole beschämen könnte. Die Besiedlung reicht bis in die Steinzeit zurück, unter den Römern wohnte hier die Mazedon i sche Legion, im Mittelalter war die Festung von Bedeutung. Cesare de Borgia, der verfemte Sohn des Papstes Alexander IV., der Niccolò Machiavelli zu der berühmten Schrift Der Fürst inspiriert haben soll, starb hier in einem Hinte r halt, als er einen Aufstand gegen den König von Navarra niederzuschlagen ve r suchte. Diese Stadt war ein Musterstück europäischer Kulturgeschichte. Den Einheim i schen, die lachend, schwatzend, schreiend, singend, klatschend, schnaufend, streitend überaus zahlreich die Gassen bevölkerten, schien es zie m lich egal zu sein. Für sie war alles der schlichte Alltag, und sie waren voll und ganz mit i h rem Einerlei beschäftigt. Und auch ich dachte mehr an eine Dusche und eine g u te Mahlzeit, die mich erwarteten, als an die Mühe der unzähligen Generationen, das hier aufzubauen und zu erhalten.
Der Albergo lag inmitten dieser architektonischen Pracht, war ein Teil davon. Innen aber war es mehr als einfach. Auf drei Stockwerken fanden in etlichen Zimmern siebzig bis hundert Pilger Platz, je zwanzig in einem Raum. Es gab e i nen kargen Aufenthaltsraum mit einem Wasserkocher, im Keller gar Waschm a schinen und Trockner, aber nur vier Duschen und zwei Toiletten. An der Reze p tion hatte man Schuhe und Pilgerstöcke zu deponieren und erhielt gegen einen kleinen Obolus das Bett zugewiesen. Sie waren gleich dreistöckig, ziemliche Ungetüme. Für diejenigen, die ganz oben schliefen, und womöglich auch etwas unruhig, mochte die Höhe von dreieinhalb Meter gefährlich werden. So gerne auch ich oben schlief, diesmal blieb ich doch lieber am Boden. Wer da herunte r fiel, setzte seine Pilgerschaft am nächsten Tag gewiß nicht fort. Der Raum füllte sich rasch mit Neuankömmlingen, die in Erledigung ihrer Geschäfte zügig auf und nieder kletterten und dem Ganzen das gewisse Ambiente eines Affenkäfigs verliehen. Darüber hinaus gab es je Zimmer nur einen einzigen Stuhl, der von der Breite her gerade noch zwischen die Bettreihen paßte, so daß außer Heru m klettern einem nichts anderes übrig blieb als flach auf dem Bett zu liegen. Nur so war man von den ständig hinunterfallenden Gegenständen relativ sicher. Es kam so ziemlich alles runter, besonders gefährlich waren volle Aluflaschen, Messer und Gabel. Es war einfach nicht zu vermeiden. Den Rucksack mußte j e der mit ins Bett nehmen oder unter ein Bett schieben. Wenn er noch Platz fand. Eigentum vermischte sich leicht. Ich stellte fest, in der letzten Herberge die Se i fe vergessen zu haben, fand jedoch statt dessen ein Spanischwörterbuch, we l ches ich zuvor gemeinsam mit dem Schreibzeug in Roncesvalles einbüßte. Vie l leicht war es sogar mein eigenes. Am Fensterbrett entdeckte ich ein Gefäß mit Wanzenabwehrmittel. Da Wanzen eine ständige Plage in den Herbergen waren, freute ich mich zunächst, ein Kampfmittel gefunden zu haben. Dann aber las ich das berühmte Kleingedruckte über Gefahren und Nebenwirkungen. Es schien für Menschen viel gefährlicher als für Wanzen zu sein. Ich stellte das Teufelszeug wieder aufs Fensterbrett und ging mir die Hände waschen. Das tat ich lange und gründlich und verließ anschließend das Haus. Auf der Straße war es bestimmt sicherer.
Ich kam nicht weit. An der nächsten Bar stieß ich auf das französisch-spanische Pärchen und blieb prompt hängen. Ich mochte die zwei, die sich erst auf dem Camino kennenlernten. Sie war eine ernsthafte hübsche Frau mit einem Kind i r gendwo, er hatte ein fröhliches, entwaffnendes Wesen, wie man es selten trifft. Etwas davon schien auf mich abzustrahlen. In ihrer Gesellschaft fühlte ich mich wohl. Vor der Kulisse eines römischen Tempels tranken wir, ratschten und gi n gen später in ein sehr feines Restaurant essen, das ein sogenanntes Pilgermenü anbot. Die gab es hier überall, doch in dieser Kategorie war es unüblich. Ein Klassenrestaurant. Die Gäste trugen feine Kleider und gaben sich
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