Bis ans Ende der Welt (German Edition)
verwu n schener Wald, wie schon gestern und vorgestern, mit romantischen Hohlwegen unter knorrigen, uralten Eichen, derben Ahornen, schlanken, halbnackten Euk a lyptusbäumen. In den Kronen hüpften die Sonnenstrahlen wie tausend flüsternde Engel. Das zitternde Licht fuhr auf schrägen, geraden Bahnen ins dunkle Unte r holz, traf, leuchtete auf, wabbelte, verlosch. Es entblößte das Geheimnis nicht, sondern wies nur drauf hin. Dort auf dem Boden flüsterten gefallene Blätter verworrene Geschichten von Glanz und Schatten. Hier hatte man seine Sinne im Zaum zu halten, damit sie nicht in den Wald laufen und nimmer wiederkehren. So ging der allwissende Herr dann lieber eine Weile mit, doch blieb er bald an einem hohen, steinernen Kreuz hängen, wie er so häufig tat, still und leise, gru ß los, daß ich es gar nicht merkte, zumindest nicht sogleich, wenn er abblieb. Ich war auf sein Kommen und Gehen schon zu gewöhnt, als mir darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Ich überlegte statt dessen, wie lange ich das hier im G e dächtnis werde behalten können. Wenn ich mir vorstellte, wie es nach und nach langsam verblassen würde, bis nichts mehr als ein diffuser Brei übrigblieb, wu r de mir traurig zumute. Wäre das Leben weniger lebenswert, wenn man es ko m plett damit verbrachte, in einer Zeitschleife, wieder und wieder, durch diesen verwunschenen Wald zu gehen?
Ich ging, ohne anzuhalten. Von Wegweiser zu Wegweiser, von Grenzstein zu Grenzstein. Hart wie ein Kiesel. Nicht die kleinste Pause machte ich. Der Kö r per verlangte weder Essen noch Trinken. Zweiundzwanzig Kilometer ging ich so. Als ob nicht ich selbst, sondern ein anderer an meiner statt ginge. Ich war nur der Zuschauer. Wie im Kino. Charlie Chaplin geht dahin und schwingt den Sp a zierstock. Welche Gefühle hat man dabei?
Am Anfang war ich noch allein, doch je weiter ich kam, um so mehr Menschen überholte ich. Vor mir Pilger, hinter mir Pilger. Dazwischen haufenweise Ra d fahrer, die sich jubelnd durch das Fußvolk drängten. Es gab hier Abfallkörbe, alle voll. Wo es keine gab, lag der Dreck am Wegrand. Nirgends eine Sitzgel e genheit, keine Bank, kein Baumstamm. Wer würde denn auch sitzen bleiben wollen? So nah am Ziel? So ging ich immer weiter, obwohl ich längst jeden Schwung verlor. Dann, am Nachmittag, war plötzlich niemand mehr da. Wie mit dem Zauberpilgerstab auf den Boden geklopft. Alle verschwunden. Keine Pi l ger, keine Radfahrer, keine Einheimischen, alles friedlich, verlassen und leer. Es gibt hier auf den letzten paar Kilometern einfach zu viele gute Herbergen, die um diese Zeit ihre Toren öffnen. Ich hatte noch zehn Kilometer bis Monte do Gozo zu gehen. Aber ich konnte mich darüber nicht freuen. Meine Füße schi e nen am Boden zu kleben, die Luft vor meiner Brust wollte nicht weichen, stand wie eine Mauer vor mir. Wo war denn der romantische Wald geblieben? Hier gab es nur Asphalt und Steine und Staub und Zäune, sogar einen riesigen, lä r menden Flughafen gab es zu überwinden, den man mir in den Weg stellte. Einen ganzen riesigen lärmenden Flughafen. Man bedenke nur die Mühe, die sich der Widersacher machte! Ungeheuerlich! Meine Sohlen spürte ich überhaupt nicht mehr. Wenn ich sie kratzte, kam ganz authentisch das kitzelnde Gefühl Tause n der kleiner Nadeln, das mich zum Lachen reizte. Es kam mir seltsam vor, und ich probierte es mehrmals – immer mit demselben Resultat. Noch seltsamer: Die große Zehe rechts sah aus, als ob sie gebrochen wäre. Ganz komisch stand sie nach oben ab. Sie konnte doch nicht gebrochen sein, davon wüßte ich doch. Oder doch nicht? Vielleicht durch eine Art Materialermüdung? Ich wechselte auf dem letzten Stück noch in die Sandalen, spürte aber kaum was davon. Ich holte den Papierstreifen mit dem Jesaja-Spruch, den ich bei der Pilgersegnung in Le Puy auf den Weg bekam und seitdem in meiner Börse aufbewahrte: But the Lord God helps me; therefore I have not been disgraced; therefore I have set my face like a flint, and I know that I shall not be put to shame. [80] Es klang immer noch seltsam, doch irgendwie nicht mehr fremd. Lag es vielleicht an dem En g lisch? J'ai rendu ma face dure comme un caillou, he puesto el rostro como una piedra, rendo la mia faccia dura come pietra, posui faciem meam ut petram d u rissimam. Irgendwie vermiste ich in den romanischen Sprachen den Kiesel. Ein simpler „harter Stein“ war mir nicht hart genug. Mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel! Das
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