Bis ans Ende der Welt (German Edition)
darin bin ich klug und listig. Jedenfalls bessere, als ich sie hatte. Und nun die vierte Stufe der Demut? Lächerlich bis erstaunlich. Und so kommt es mir eigentlich noch heute vor.
Dabei wäre in dieser Lage das einzig Vernünftige, ein Taxi zur nächster Klinik zu nehmen. Die wäre dann wohl in Santiago de Compostela, und die Pilge r schaft damit zu Ende. Andererseits ist das Marschieren mit Gepäck in Verbi n dung mit einer akuten Virusinfektion eine direkte Aufforderung an Herz, Lunge und Kreislauf zusammenzubrechen. Es konnte jede Sekunde passieren. Zack und vorbei. Bestenfalls noch ein kurzes Zappeln und Koma. Als Kind war ich herzkrank, war vom Sportunterricht befreit, und vor ein paar Jahren stellte man zufällig eine Verengung der Aorta fest. Und wie ich torkelte und schwankte, konnte ich auch noch in eine der kleinen Schluchten fallen, die es hier reichlich gab. In einer davon hielt gerade die Pilgerpolizei ihren Mittagsschlaf, ich hätte mich auf sie hinabstürzen können. Ich selbst war zum Gehen verurteilt, eine Mittagspause mußte ich mir verbeißen. Egal wie schwer mit das Gehen fiel. Ich wäre womö g lich nicht mehr aufgestanden. Also ging ich weiter, einen Schritt nach dem and e ren, da mehr als ein Schritt meist nicht möglich schien. Aber das kannte ich schon alles. Hart wie Kiesel sollte ich sein. Im Kopf fühlte ich mich klar und frei und überlegte mit aller Muße, ob denn der Herr mich nur deshalb hierher führte, um mich hier verenden zu lassen. Eigentlich habe ich mir sowi e so nie vorstellen können, zuvor und während der ganzen Pilgerreise nicht, in Santiago anzukommen. Oder wie ich denn ankomme. Ich hatte einfach kein pa s sendes Bild im Kopf dazu parat, sah mich nicht feierlich durch die Straßen g e hen, in die Kathedrale eintreten und so weiter. Nichts. Kein Bild, keine Vorste l lung, kein Vorg e fühl. Alles dunkel, als ob da nichts mehr wäre. Und auch noch während der letzten Tage, als man schon die Kilometer zählte, und Simon mei n te, nun könne wirklich nicht mehr viel schiefgehen, wehrte ich ab. Der Herr war einfach zu unberechenbar. Da tut man das Richtige und aus reinstem Herzen, und der S e gen bleibt dennoch aus. Es gibt keine Garantie. Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst, der daran baut. Wenn nicht der Herr die Stadt bewacht, wacht der Wächter umsonst. [79] Ein Wallfahrtslied Salomos. Und so wuchs in mir die Überzeugung, ich werde Santiago nie ereichen, hier auf dem Weg im Staub verenden. Was mich seltsamerweise mit großer Ruhe, ja Z u fri e denheit erfüllte, denn ich hatte keinen Erwartungsstreß mehr, es lastete keine Pflicht mehr auf mich. Wenn ich nicht aufgab, bis zum Ende ausharrte, habe ich ungeachtet des Ausgangs mein Gelübde erfüllt. Der Rest lag in Gottes Hand, über die ich keine Gewalt hatte, so oder so. Nicht mein, nein, dein Wille gesch e he. Ich nehme alles gleich dankbar hin. Denn was es auch sein mag, es wird die beste, die köstlichste aller Möglichkeiten sein. In deine Hände lege ich mein L e ben, du wirst mich führen, wie du mich immer führtest, auf grüne Auen, in das Land der Verheißung. Und so bin ich am Ende auch noch furchtlos geworden. Und dieser Mut ist mir bis heute erhalten geblieben, wofür ich sehr dankbar bin, weil ein Leben frei von Angst, wer möchte das nicht, und wer kann es von sich behaupten?
Es war noch nicht ganz drei Uhr, als ich Arzúa erreichte. Hier gab es wieder reichlich Pilger, etliche in schmucken, unbenützten Klammotten, mit blanken Tennisschuhen oder gar Lederhalbschuhen angetan. Ein paar trieben sich vor dem Lebensmittelgeschäft und vor den Kneipen herum. Zwei Privatherbergen waren trotz der frühen Stunde schon belegt. Ich schleppte mich auf inzwischen recht wackligen Beinen noch bis zur kommunalen Herberge, wo die Übernac h tung angeblich nur drei Euro kostete. Ein Spottpreis, und sie machte von außen und im Eingangsbereich guten, gemütlichen Eindruck. Doch war sie schon voll, obwohl sie erst eine halbe Stunde zuvor die Pforten öffnete. Pilger waren zwar nicht zu sehen, doch stellvertretend türmte sich ein riesiger Haufen Gepäck in der Ecke, das seiner Besitzer harrte. Man lud es gerade aus dem Kleintransporter aus. Wessen Rucksack angenommen wurde, war drin. Eine spanische Jungfer an der Theke schrieb die Namen in die Gästeliste. Mich schickte sie mit etwas g e heuchelten Bedauern weiter. Alles voll. Mit Rucksäcken und toten Seelen. Wä h rend ich elend da stand und
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