Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Warum sollte man sich etwas, wofür man sich so weit aus dem Fenster lehnen mußte, mit zufälliger Gesellschaft und seichtem Gespräch ve r wässern? Das hier, von der investierten Mühe ganz abgesehen, war mögliche r weise das wichtigste Moment in seinem bisherigen Dasein als eigenständige Persönlichkeit. Diesen wichtigen Augenblick wollte er rein und unversehrt im Gedächtnis behalten. Und das galt natürlich auch für mich persönlich. Auch ich wollte nun ganz allein, ohne jegliche Ablenkung und auf das langersehnte E r eignis höchst konzentriert das offizielle Ende der Pilgerschaft wahrnehmen. Und deshalb wollte ich morgen bewußt erst ganz spät aufbrechen, damit alle anderen garantiert schon längst auf dem Weg waren und mich bei meinem Gang nicht störten.
Damit brach ich zur Besichtigung der Schlafstadt auf. Zum Schlafen war es noch zu früh, zumindest war es dem Körper noch nicht danach, ebenso wie es hartnäckig immer noch die Nahrung verweigerte. Auch recht. Wenn der Körper nichts essen wollte, sollte es dem Geist gleich sein. Statt dessen wollte er sich mit der Frage beschäftigen, ob das hier - nach dreieinhalb Monaten unsäglicher Strapazen - immer noch einen Sinn ergab. Oder zumindest die Hälfte von dem, was noch am Anfang sinnvoll schien. Wobei ich mir immer noch nicht sicher war, ob der Herr die Sache nicht anders regeln möchte. Ihm traute ich inzw i schen einfach alles zu. Das klingt wohl wieder etwas ketzerisch, doch ich selbst deutete es als ein Glaubenszeichen. Es waren zwar nur noch fünf Kilometer bis zum Stadtzentrum, aber ich war mir meiner Sache immer noch nicht sicher. Nein, der Herr hat noch immer nicht seinen Segen gegeben, hat mir noch nichts endgültig zugesagt. Ich war noch immer nicht angekommen, immer noch kon n te ich scheitern. Und immer noch konnte ich mir die Ankunft überhaupt nicht vorstellen.
So landete ich mit dem Kopf voller Gedanken in einem fast leeren Café auf dem zentralen Platz des Pilgerdorfes, wo ich zunächst nur Cola trank und am Tag e buch schrieb und mich dann über den Krach aus dem laufenden Fernsehen ä r gerte. Als ich deswegen maulte, wollte die Bedienung tatsächlich wissen, ob ich die spanische Musik nicht möge. Spanische Musik? Dieses Devischenheulen zu Pauken und Trompeten, das die Jerichomauer nicht nur einstürzen, sonder gleich zu Staub zerfallen ließe? Unter spanischer Musik stellte ich mir - altmodisch wie ich eben bin - etwas Melodisches, Rhythmisches, Romantisches mit Gitarre und Kastagnetten vor. Die junge Frau schüttelte nur den Kopf vor so viel Dummheit und provinzieller Rückständigkeit. Sie lebe in Spanien, nicht auf dem Mond, meinte sie im echt spanischen Stolz. In der Tat. Es gab inzwischen jede Menge mehr Straßen und Autoverkehr, die Städte waren schmuck und sauber, den ra d fahrenden Schwulen stand es frei, ihre Symbole aufgebläht am Rücken zu tr a gen, und ich blieb keinen einzigen Tag ohne eine ordentliche Dusche. Also gab ich der Jungfer recht, was sie mit stiller Genugtuung und ohne weiteren Groll hinnahm. Eigentlich mochte ich die Menschen hier. Und sie nahm versöhnlich die Fernbedienung und schaltete auf einen anderen Sender um, und nun brüllten und heulten aus dem Lautsprecher Tausende Irre zum Fußballspiel. Das heißt, nicht alle. Manche schonten die Kehle und ließen statt dessen leistungsvolle Drucklufthupen für sich sprechen. Es war recht so. Die Demut holte mich wi e der ein.
Ich trieb mich nicht zu lange auf dem fast leeren Campus herum. Es lohnte sich nicht. Noch trostloser war es in der Baracke, wo inzwischen in der Küche die schwerbewaffnete Pilgerpolizei ihr Lager aufschlug. Ein Terroranschlag stand wohl unmittelbar bevor. Es störte mich nicht, ich brauchte keine Küche. Ich ha t te keinen Hunger, keinen Durst, der Körper begehrte nichts. Die Schlafkammer stand leer, alle Mitbewohner trieben sich irgendwo herum. Ich hätte unangefoc h ten wie ein König auf dem einzig vorhandenen Stuhl sitzen können und die Be i ne üppig über die ganze Gangbreite ausstrecken können. Aber ich ließ mich auf diese sadomasochistische Tat nicht ein. Statt dessen kroch ich in den Schlafsack und verlor mich im Schlaf völlig ungestört.
Santiago de Compostela, km 2954
Um vier Uhr früh wachte ich auf. Jemand schoß direkt vor dem Fenster, das heißt, nicht mehr als einige wenige Meter von meinem Kopf entfernt, sechsmal rasch hintereinander aus der Schrotflinte. Dann herrschte wieder Stille. Alle r dings nur
Weitere Kostenlose Bücher