Bis ans Ende der Welt (German Edition)
man leicht bis zum Knie. Der Herr muß sie hingeschickt haben, um Pilgern Demut zu lehren. In Nullkommanichts wurde ich völlig naß und die Sandalen - im wahrsten Sinne des Wortes - untragbar. Unter diesen Umständen und in me i ner schwachen Verfassung konnte ich mit Jörg nicht mehr mithalten und ließ ihn ziehen. Leiden konnte ich ganz gut allein, mußte es nicht vor anderen tun.
Auf noch gar nicht so alten Aufnahmen von Le Puy sieht man eine sehr viel kleinere Stadt als heutzutage. Dort, wo früher nur Felder und Wiesen waren, und der ankommende Pilger andächtig auf das gewaltige Panorama blickte, stehen heute ein Haus auf dem anderen und Tausende Autos im Stau. Die Stadt scheint geradezu explodiert zu sein. Ich ging und ging und ging und hatte das Gefühl im Kreise zu laufen. Die zwei riesigen Basaltkegel, die Wahrzeichen der histor i schen Altstadt, die mir fast schon zum Greifen nahe schienen, verlor ich wieder aus den Augen. Es fiel ein ranziger Regen. Wo war denn die Stadt, wo einst der Jakobsweg begann? War ich von lauter Stadien, Einkaufszentren und Tiefgar a gen dran vorbei gelaufen? Es war wieder die Demut gefragt, meine alte Schw ä che. Als ich dann in der historischen Herberge neben dem Dom endlich Unte r kunft fand und frisch gewaschen aus der luftigen Höhe auf die Stadt zu meinen Füßen blickte, machte ich gleich ein dreifaches Kreuz, es endlich geschafft zu haben. Willig wollte ich auf alle Einkäufe verzichten und keinen Schritt auße r halb des historischen Stadtbezirks tun. Ich war dem Verkehr, dem man als Fu ß gänger ja völlig schutzlos ausgeliefert ist, seelisch nicht mehr gewachsen.
Es war keine vorübergehende Laune, ich spürte, daß ich mich unter dem Einfluß des Camino zu verändern begann. Stets war ich ein naiver Träumer, den man leicht um den Finger wickelte oder auch in die Wüste schickte. Die Welt, wie ich sie sah, war die Projektion meiner selbst. Nun begann die Illusion zu brö c keln, ich wurde strenger zu mir, sah Dinge klarer, sah durch den Schleier fre m der Interessen und Ambitionen, die an mich herangetragen wurden, urteilte simpler, objektiver. Der Selbstbezug, das Wollen wurde weniger. Im gleichen Maße fing mein Herz an sich zu öffnen, das Mitleid mit der Welt wuchs. Fremde Dinge, vollendete Fälle rührten mich nun. Ich las die Namen der Gefallenen aus den zwei Weltkriegen an den Tafeln vor den Kirchen und Rathäusern. Väter, Söhne, Brüder, ganze Familien und Verwandtschaften, zwei, drei Generationen für das Spiel und die Kurzweil der Mächtigen ausgelöscht. Name für Name las ich, Tag für Tag, Dorf für Dorf. Auch bei uns hängen die Tafeln, als Erinnerung, als Warnung, aus Pietät. Empörend war es, gewiß, schrecklich, und was noch? Ein abscheulicher Mord, ein Stück der Zukunft vernichtet, ein Teil der Schö p fung zerstört. Nun aber sah ich den geschundenen Menschen und weinte, wie ich beim Tod des Vaters weinte. Herr, erbarme dich unser für all das, was wir getan und nicht getan haben.
Da freute ich mich so auf diesen Augenblick, bereitete mich tagelang darauf vor, und nun hätte ich gleich weiterziehen können. Es gab nämlich eine Panne bei der Reservierung. Der Anrufbeantworter war schuld, vielleicht. Aber man ließ Gnade vor Recht walten und gab mir ein Bett, ja sogar ein eigenes Zimmer, das aber so winzig war, daß man sich fast nicht umdrehen, den Rucksack nicht le e ren konnte. Dafür entdeckte ich einen Aufenthaltsraum, der diesen Namen ta t sächlich verdiente – mit Holzboden, alten Möbeln und einer großartigen Pa n oramasicht über die ganze Stadt. Das Haus war seit dem Mittelalter eine Pilge r herberge. Am Horizont sah ich die Hügel, die ich nach Mittag passierte, folgte dem Weg an der Wohnsiedlung, dem Fluß, dem Stadion und dem riesigen Ei n kaufshaus bis zur Altstadt. Aus dem Meer roter Dächer erhob sich wie ein g e waltiger Felsen in der Brandung einer der schroff aufragenden Basaltkegel, g e krönt von der festungsartigen Chapelle Saint-Michel-d’Aiguilhe aus dem 12. Jahrhundert. Sehr eindrucksvoll. Auf den alten Fotos war das Land ringsum noch leer und grün. Ich versuchte jede freie Minute in dem Aufenthaltsraum zu verbringen, las, schrieb und sah auf die Stadt.
Zum Abendessen kamen vielleicht zwanzig Leute zusammen. Fast alle wollten hier die Pilgerschaft beginnen. Jedem wurde nach einem obskuren Schlüssel ein Tischplatz bestimmt. Ein älteres holländisches Ehepaar, ein strammer Frankok a nadier, eine junge Pariser
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