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Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Bis ans Ende der Welt (German Edition)

Titel: Bis ans Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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Anwältin und eine Belgierin waren meine Tischnac h barn. Bis auf den Kanadier - von Beruf ein LKW-Fahrer und fanatischer Fra n kophone - sprachen alle wohl besser Englisch als ich Französisch, aber man le g te Wert darauf, sich in der Landesprache zu unterhalten. Ich mischte mich nicht viel ein. Stephanie, die Pariserin, war mir etwas zu forsch und beredt, mit dem Kanadier verwarf ich mich, als ich ihm auf den Kopf zusagte, seine nationalist i sche Denkart hätte uns Europäer gleich zweimal Millionen von Toten und den Ruin gebracht und wir hätten daraus gelernt. Danach gab’s nur die Konversat i on, die man pflegt, weil man an demselben Tisch sitzt. Das Essen war für fra n zösische Verhältnisse, wie ich sie bis dahin kennenlernte, ungewöhnlich b e scheiden. Die Portionen waren knapp und genau auf die Zahl der Tischgäste bemessen. Nicht einmal von den schon erwähnten grünen Linsen gab es hinlän g lich. Den Wein ließen die meisten einfach stehen, da man ein Glas vom Billi g sten auch ruhig stehen lassen kann. Nur ich und der Frankokanadier ließen sich davon nicht abhalten. Serviert wurde etwas linkisch von Personen, die unschwer dem Knast- und Drogenmilieu zuzuordnen waren. Erst später kam die Erkl ä rung, man unterhalte im Hause aus den laufenden Einnahmen eine kleine Zahl reuiger Sünder. Daher sei auch das Geld gut zu zählen und das Zimmer zu ve r schließen. Partagé war das Stichwort. Teilen mit denen, die nicht haben und b e nötigen.
    Kaum war das Dînée beendet, schon liefen die Gäste davon. Es hätte sein kö n nen, daß sie in die Stadt noch eine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken bea b sichtigten. Ich verzog mich in den Aufenthaltsraum, um zu lesen, zu schreiben und Le Puy bei Nacht zu schauen. Doch es gab mehr, ein richtiges Abendpr o gramm. Am Nebentisch tagte, geleitet von einem gutaussehenden intellektuellen Guru, eine Art Selbsterfahrungsgruppe. Man las einander Texte und Gedichte vor. Soweit ich später erfahren konnte, sei es ein Abendkurs im kreativen Schreiben an der Sorbonne und der Mann ein bekannter Autor gewesen. Avec esprit et grand futur Mir fielen die einprägsamen Gesichter mit typisch großen gallischen Nasen und Ohren auf. Interessante Gruppendynamik. Mindestens eine der jungen Frauen hatte ein Verhältnis mit dem Leiter. Eine Volksschullehrerin, attraktiv, zurückhaltend. Drei andere Frauen warteten noch ab. Auch dabei war, unklar warum, ein schüchterner Jüngling, Sozialarbeiter vom Beruf, Trommler von Berufung. Es war nicht einfach auszumachen, wo das Fachliche endete und das Private anfing. Hier lief ein psychologisches Kammerstück, ein Akt, und ich war das internationale Publikum. Die Gruppe kam mit dem Zug aus Paris, wol l ten einige Tage auf dem Camino wandern und dabei alles penibel kreativ aufa r beiten. Das Gepäck beabsichtigten sie, ab wechselnd mit einem Leihwagen zu transportieren. Sie lasen, was sie tagsüber geschrieben haben, der Reihe nach vor. Dann wurde besprochen. Das hieß, der Guru besprach. Oder er spielte den anderen die Bälle zu. Er tat es geschickt und behutsam, damit sich niemand b e leidigt oder vernachlässigt fühlte. Meist waren es freie Gedichte. Laissée - lo s lassen - hieß das Thema an diesem Abend. War das Leben denn nicht herrlich? Ich zog ein Gesicht wie Angela Merkel bei der Lektüre von N i colas Sarkozy aus Marcel Proust vor dem deutschen Bundestag zum Tag der deutschen Einheit und täuschte schreibend geistige Entrückung vor. Es war me i ne feste Absicht, den Zuschauerplatz nicht zu räumen. Ich durfte sie nur nicht zu sehr reizen. Sie hä t ten mich womöglich aufgefordert, selbst etwas Kluges vorz u lesen. Daß es so etwas überhaupt noch gab. Einfach toll.
    Der nächste Tag fiel auf den Sonntag, und ich besuchte die Messe. Darauf legte ich an diesem besonderen Ort sehr großen Wert, auch war es seit sehr langer Zeit wieder der erste Gottesdienst, den ich besuchen durfte. Auch wenn ich mit der französischen Liturgie noch nicht vertraut war, die Meßfeier hat mich sehr beeindruckt. Dazu trug das Äußere der Kathedrale einiges bei. Danach versa m melte man die Pilger zum Gespräch und zum Segen. Das hatte noch den Vorteil, daß man gleich viele der Mitstreiter kennenlernte. Jeder wurde nach seinem Namen, seiner Herkunft und seinem Ziel gefragt. In der Sakristei hatte man sich in das Goldene Buch einzutragen. Es gab Pilgerbücher und einen schönen Ste m pel mit der Schwarzen Madonna, der Stadtpatronin, in Rot. Und

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