Bis ans Ende der Welt - Oskar und Mathilda ; 2
Scheitern zu verurteilen, bevor man sie überhaupt ausprobiert hatte.
Also lief er weiter.
Direkt vor dem Schild ging ein Kiesweg ab, der nicht viel breiter war als ein Mittelklassewagen. Er stieg leicht bergan, und nachdem Oskar mehrere Biegungen hinter sich gebracht hatte und schließlich aus einem kleinen Wäldchen heraustrat, baute sich am Hang vor ihm plötzlich ein dreistöckiges weiß getünchtes Gebäude mit Erkern, unzähligen Sprossenfenstern und einem dunklen Ziegeldach auf. Es war von einer bunt blühenden Parklandschaft und einem schmiedeeisernen Zaun umgeben.
»AUSZEIT«
KURKLINIK THURGAU
stand auf einem Emailleschild, das am Torpfosten angebracht war.
»Besuchszeiten nach Absprache«, las Oskar weiter.
Oje! Offenbar hätte er vorher anrufen und sich anmelden müssen. Wie dumm war es nur gewesen anzunehmen, dass er seinen Vater einfach so sprechen könnte!
Beklommen ließ Oskar den Kopf hängen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Turnschuhe mitsamt den Socken zu begraben. Jetzt, in diesem Moment, hätte er dieDrei wirklich gut gebrauchen können. Sie hätte ihm neuen Mut und auch ein bisschen Trost gegeben.
Oskar warf noch einen kurzen Blick auf den hübsch angelegten Park und wollte sich gerade umdrehen, da fiel ihm eine Gestalt ins Auge, die sich ein ganzes Stück weiter rechts von einer der Bänke unter einer Baumgruppe erhob und nun langsam weiterschlenderte. Der Mann hatte ihm den Rücken zugewandt, und trotzdem erkannte Oskar ihn sofort an der Art und Weise, wie er seinen Kopf zur Seite geneigt hielt.
»Papa«, krächzte er. »Papa …«
Er trat ganz dicht an den Zaun heran und klammerte seine Hände um die schmiedeeisernen Streben. Sein Herz klopfte so fest, dass es schmerzte, und ein eiskalter Schweißtropfen löste sich aus seinem Haaransatz, perlte seinen Nacken hinunter und hinterließ einen Gänsehautschauer auf seinem Rücken.
»Papa!«, rief Oskar. »Papaaa!«
Er nahm seine Finger von den Streben und rannte los. Als ginge es um sein Leben, hastete er am Zaun entlang, bis er auf einer Höhe mit seinem Vater war.
»Papa!«, brüllte er nun, so laut er konnte. »Papaaa!«
Manfred Habermick blieb wie angewurzelt stehen. Langsam drehte er sich um und richtete seinen Blick auf Oskar.
Es war, als ob die Zeit stillstand und die Erde aufhörte, sich zu drehen. Eine unendlich lange Ewigkeit standen die beiden einfach nur da und sahen sich an.
Plötzlich ging ein Ruck durch Manfred Habermicks Körper. Er richtete sich auf und kam nun zielstrebig auf Oskar zu.
»Mein Junge«, sagte er leise. »Mein Junge.«
Wieder legte Oskar seine Hände um die Zaunstreben.
»Papa«, sagte er. »Wie geht es dir?«
»Gut … äh, wirklich gut«, erwiderte Manfred Habermick. Zögernd schloss er seine Hände um die von Oskar. »Was machst du hier?«, fragte er mit einer ganz komisch belegten Stimme, und Oskar sah, wie sein Kehlkopf unter der dünnen Haut bebte. »Ich meine … Wie kommst du hierher?« Sein Blick glitt über den Schopf seines Sohnes hinweg in Richtung Kiesweg. »Ist Mama auch …?«
Oskar schüttelte den Kopf. »Nein, sie weiß überhaupt nicht …«
»Oh!«, sagte Manfred Habermick.
»Ich bin mit Mathilda gekommen«, beeilte Oskar sich zu erzählen. »Und mit ihren Eltern.« Er deutete ins Tal hinunter. »Wir wohnen in der kleinen Pension. Eigentlich wollen wir noch nach Italien«, fügte er hinzu. »Strandferien machen.«
»Oh, das ist schön«, meinte sein Vater. »Strandferien würde ich auch gerne mal machen.«
Oskar fand, dass er gut aussah, nicht so blass wie früher. Seine Augen glänzten richtig – obwohl sein Blick seltsam nach innen gekehrt und auch irgendwie traurig schien.
»Warum hast du denn nicht angerufen?«, fragte er jetzt.
Oskar zuckte mit den Schultern. »Ich wusste ja vorher nicht, dass man das muss«, sagte er und senkte den Kopf. »Außerdem hatte ich Angst, dass du vielleicht gar nicht willst, dass ich dich besuche. Hast du meine Briefe und die Postkarten eigentlich bekommen?«, fragte er leise.
»Ja, hab ich«, sagte sein Vater ebenso leise. »Ich habe mich sehr darüber gefreut und ich habe auch alle beantwortet. Aber dann habe ich die Briefe nicht abschicken können.«
Oskar sah ihn verwundert an. »Haben sie es dir in der Klinik etwa verboten?«
»Nein.« Manfred Habermick schüttelte den Kopf. »Niemand hat mir etwas verboten. Eigentlich ist es sehr schön hier. Wenn Mama und du mir nur nicht so fehlen würdet«, setzte er
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