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Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Riehl
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Jahreszeiten... Ralf nickte und antwortete ein gedehntes »yeah«. Er war ja nicht mehr neu in Australien.
    Unterwegs fiel ihm ein, dass er wegen des Fernrohrs beim Backpacker in Brisbane anrufen wollte, bevor wieder die Nachtschicht übernahm, auch wenn es vermutlich nichts bringen würde.

    Brücken - na gut. Aber mussten sie gleich so hoch sein? Endlos ging es hinunter, das sah Ralf schon von weitem, und aus der Nähe wollte er es gar nicht wissen. Kristine stellte das Auto auf den Parkplatz vor der Brücke neben einen Kleinbus mit der Aufschrift Baerbel’s Bungee . Die linke Fahrbahn der Brücke war gesperrt, in der Mitte standen ein paar Leute.
    »Wartest du auf irgendwas?«, fragte Kristine.
    »Kann ich nicht hier bleiben?«
    »Wenn du von hier springen willst«, antwortete sie spöttisch. »Na los, stell dich nicht so an. Der Flug dauert nur fünf Sekunden. Komm jetzt, okay?«
    Ralf trottete hinterher. »Okay, zum Zuschauen.«
    Springen würde er nicht, das konnte sie vergessen.

    Auf der Brücke fühlte er sich wieder unwohl und schwindlig. Er bemühte sich, nach vorne zu sehen, aber immer wieder zog es seinen Blick über das Brückengeländer in die Tiefe. Er fasste nach Kristines Hand. Sie war warm und trocken, im Gegensatz zu seiner. Kristine drückte sie kurz und ließ wieder los.
    »Ralf, bitte. Das haben die schon mit tausenden vor dir gemacht.«
    »Ich springe nicht.«
    »Jetzt hab dich nicht so. Es ist vollkommen ungefährlich und jetzt sind wir schon mal da.«
    Ralf hatte das Fünfmeterbrett im Schwimmbad gemieden. Nur einmal, als keiner seiner Freunde dabei war, stieg er hinauf. Die Tiefe des Beckens ließ die Sprunghöhe noch größer erscheinen, der Abstand zum Rand war lächerlich gering, er würde todsicher wegrutschen, schräg fallen und auf der Kante aufschlagen. Nach einer halben Minute innerem Kampf ging Ralf wieder hinunter. Er konnte nie verstehen, dass es Leute gab, die vom Zehnmeterbrett sprangen.
    Kristine hatte bezahlt und sich in einer kurzen Schlange angestellt. »Komm her«, sagte sie.
    »Ich springe nicht.«
    »Du musst, ich hab für dich mitbezahlt. Es gab Pärchenrabatt.«
    Die enge Stelle in seiner Brust, die er seit der Trennung von Miriam hatte, krampfte sich weiter zusammen. Da war sie - die Strafe für das verlorene Fernrohr, für gebrochene Treue und vermutlich für alle Sünden, seitdem er als Sechsjähriger mit einem Feuerzeug die Teppichrolle im Keller in Flammen aufgehen ließ.
    Eine schlanke Frau mit Studiomuskeln kam lächelnd auf sie zu. Kristine ließ Ralf den Vortritt.
    »Hi, ich bin Baerbel. Du hast Angst?«
    Ralf nickte.
    »Das ist normal. Hinterher wirst du dich großartig fühlen. Zuerst brauchen wir dein Gewicht.«
    Beim Wiegen starrte Ralf auf seine Füße. Nicht über das Geländer schauen, beschwor er sich, nicht, nicht, nicht, nicht. Das war ein Albtraum - und bis zum Erwachen fünfzig Meter Höhenunterschied. Er ahnte jetzt, warum zum Tode Verurteilte sich gegen den Henker nicht wehrten: Es war die Ausweglosigkeit, verbunden mit dem Fünkchen Hoffnung, dass Gott demjenigen gnädig ist, der sein Schicksal mit Würde trägt.
    Als Ralf an der Reihe war, befestigte Baerbel das Bungee-Seil an seinen Fußgelenken und Nothaltegurte an den Schultern, überprüfte alles und sagte: »Okay, wir können. Guten Flug, Adler.«
    Seine Füße mussten aus Wachs sein, sie waren kaum zu spüren. Nur dass sich darum ein Seil befand, das spürte er, und fast wunderte er sich, dass sie ihm den Strick nicht um den Hals gelegt hatte.
    Das Tal war schön, die Aussicht prächtig. Er konnte jeden Baum erkennen mit all den saftigen grünen Blättern, jeden Stein am Ufer des kleinen Stausees unter ihm. Baerbels Stimme sagte irgendwo hinter ihm irgendwas, eine Aufforderung vielleicht, aber die brauchte Ralf nicht mehr. Er war unterwegs - und egal ob er jetzt gleich sterben würde oder nicht, er war auf dem Weg in eine andere Welt, denn nach diesem Moment konnte sein Leben nicht mehr dasselbe sein. Ganz nebenbei ergriff die Schwerkraft von seinem Körper Besitz und sog ihn immer schneller in die Tiefe. Sein Bewusstsein nahm die andere Richtung: in höhere Sphären, ins Nirwana, ins Nichts.
    Der sanfte Ruck des Seils holte ihn in die Realität zurück. Scharf bremste das Wasser vor ihm ab, schnappte nach ihm, dann zog es sich zurück, nur um wiederzukommen und sich wieder zurückzuziehen.
    Er lebte noch, kein Zweifel. Von oben drangen Glückwünsche, Kristines Stimme war darunter. Ralf

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