Bis auf die Haut
für London, diese Stadt voller mürrischer Energie, in die ihr vor fast zwanzig Jahren als Teenager aus dem Internat geflohen wart. Und nicht einmal für ihren Job – den mache sie nun schon so lange, dass sie immer wieder dieselben Geschichten höre, es gäbe im Leben der Menschen nun mal nicht viele neue Plots, und sie habe sich in letzter Zeit dabei ertappt, dass sie einfach abschalte.
Vermutlich ziehst du extreme Menschen wie Theo deshalb an, weil du selbst so stabil bist, wie übrigens auch Cole. Sie hat euch beide einmal als schauerlich zufrieden bezeichnet, manche Leute würden darunter ein unverzeihliches Grau in Grau verstehen, doch für andere bist du ein Anker in ihrem Leben, immer für sie da, sogar an Sonntagabenden, Geburtstagen und an Weihnachten.
Seit eurem ersten Internatsjahr habt ihr euer Leben miteinander geteilt, Theo und du, habt Pferdebilder aus Zeitschriften über Araberstuten getauscht, über Nacht gecampt, um ein Ticket für Duran Duran zu ergattern, und im Tandem Bücher verschlungen, von
Unsere kleine Farm
über
Die Dornenvögel
bis zur
Geschichte der O
. Du hast deine erste Zigarette mit ihr geraucht, und als du zum letzten Mal mit einem Mädchen zusammen geduscht hast, war es natürlich mit ihr. Ihr habt bei euren Trauungen am Altar der anderen gestanden und wusstet schon, dass ihr einmal die Patinnen eurer Kinder werdet.
Ihr seid euch in derselben Klasse eines unbedeutenden Internats in Hampshire begegnet, einem Ort, an dem man zur Mittelmäßigkeit ermutigt wurde. Man sollte nicht zu klug sein, weil einen das zu einer schlechten Ehefrau machte. Wenn man sich auf irgendeinem Gebiet auszeichnete, galt das als leicht pervers, doch an Theo glitt das alles in erstaunlicher Weise ab. Anfangs war sie nicht sehr beliebt. Sie kam mitten im Schuljahr in die Klasse. Hatte einen komischen Namen. War körperlich schon weiter entwickelt als die anderen Mädchen und hatte ausländische Eltern, Neuseeländer, die erst vor kurzem zu Geld gekommen waren, allerdings bei weitem nicht zu genug Geld. Doch dank ihrer starken Persönlichkeit stieg sie in der Gunst und wurde sogar zur Vertrauensschülerin gewählt, wie du übrigens auch.
Kein Grund zur Euphorie, sagte sie, praktisch
jede
wird Vertrauensschülerin. Das machen die nur, weil sie vergessen haben, uns Bildung zu vermitteln – das ist etwas, was wir später in unseren Lebenslauf schreiben können.
Sie wurde der Schule verwiesen, weil sie dem Papst geschrieben hatte, warum Knaus-Ogino bei vielen Mädchen einfach nicht funktionierte. Ihr Fehler dabei: Sie unterzeichnete den Brief mit dem Namen einer blonden Mitschülerin, die Model werden sollte und der ihr Vater ein Auto versprochen hatte, wenn sie mit dem Nägelkauen aufhörte. Und die besonders gut darin war, auf euch beide herabzuschauen. Der Skandal machte sie zur Exilheldin, doch sie blieb dir immer treu, ihrer Hofdame, die sich als Erste in sie verliebt hatte.
Hier in Marrakesch wünschst du dir nur, dass deine Freundin genauso glücklich wäre wie du, denn du möchtest, dass auch andere sich freuen, möchtest ihnen Freude schenken, das verschafft dir tiefe Befriedigung. Ständig hast du für andere eine nette Geste bereit, deine Großmutter sagte dir immer, du solltest nie einen freundlichen Gedanken unterdrücken, und daran versuchst du dich zu halten. Du machst einen Schnappschuss vom Schlangenbeschwörer auf dem Platz und er stürzt auf dich zu, fordert ein paar Münzen und schwenkt seine Schlangen in deine Richtung. Kreischend weichst du vor ihm zurück und ziehst Cole mit dir fort. Das musst du Theo erzählen.
14. Lektion Seid anständige junge Damen, jede einzelne
Ihr wagt euch an einen verrauchten Imbissstand auf dem Platz, kauft euch etwas zum Abendessen und setzt euch auf die rohen Holzbänke. Zaghaft esst ihr ein wenig vom Couscous, aber die sehnigen Fleischstückchen auf den Spießen und den sandigen Salat lasst ihr liegen; zum Beweis für eure Tollkühnheit lasst ihr euch fotografieren. Cole ist gereizt und missmutig und möchte ins Hotelzimmer zurück, du aber fühlst dich wie im Herzen eines gewaltigen Treffpunkts, an dem afrikanische Stämme aus dem Süden und Araber aus dem Norden und Berber aus den Bergdörfern zusammenströmen, und du reckst den Kopf und trinkst die Gerüche und die Hitze und den Rauch in dich hinein. Alle diese wundersamen Menschen! Du blickst zu deinem Mann hinüber und streichst ihm über den Arm, spürst sein schmales, sinnliches Handgelenk,
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