Bis auf die Haut
Wut.
Über die vielen Male, wenn du gesagt hast, ich liebe dich, und dich dabei entblößt hast bis auf die Haut. Zu einem Nichts zusammengeschrumpft bist. Über die vielen Male, wenn sie dich nie zurückgerufen haben. Über alle Liebesaffären, die in tristen One-Night-Stands verpufft sind. Über die vielen Male, wenn sie deine ganze Energie aus dir herausgesaugt, dich ausgehöhlt haben. Wenn sie dich sitzen gelassen haben. Wenn sie einfach zur Tür hinaus verschwunden sind. Wenn sie als Nächstes eine Asiatin haben wollten.
Deine Wut sprüht Funken, während du die Küchenschränke putzt und in jedem Winkel Staub saugst. Martha schaut vorbei: Aha, der Nestbauinstinkt tobt sich aus, lacht sie und zieht sich wieder zurück.
O nein. Da tobt etwas ganz anderes.
124. Lektion Es sind Kleidungsstücke für den Säugling vorzubereiten und etliche häusliche Vorkehrungen zu treffen
Du arbeitest wie eine Wilde am PC , weil dir jetzt nichts anderes mehr übrig bleibt. Mittendrin boxt das Baby mit seinem Fäustchen nach oben, dass du am Schreibtisch aufjaulst. Du hast das Gefühl, es wird gleich durch deine zum Zerreißen gespannte Haut durchbrechen. Vorher war dein Kind da drinnen so schön abgepolstert, nichts konnte es erschüttern. Wenn du jetzt am Schreibtisch an dir nach unten schaust, steht links von deinem Nabel eine dicke Beule vor, ein kleines Köpfchen, und behutsam schiebst du es zurück.
Cole wird morgen zurückkommen. Das hat dir die geschäftsmäßige Stimme mitgeteilt.
Du musst arbeiten. Du musst noch etwas anderes Sinnvolles in deinem Leben finden. Du sitzt an deinem Schreibtisch, weil du nicht weißt, wie es nach dem Tag X weitergehen wird, wann du überhaupt wieder an den Computer zurückkehren kannst. Du bist diszipliniert und energiegeladen, nicht zerstreut, müde und zaudernd wie früher. Die Worte sprudeln nur so hervor, überstürzen sich. Die Arbeit drängt deinen Schmerz beiseite. Am Schreibtisch bist du ruhig, stark, beflügelt. Das Schreiben ist ein Heilmittel, ein Balsam, denn dabei verfügst du über eine Stimme, sagst und tust genau, was du willst.
Es gibt noch so vieles für die Geburt vorzubereiten. Zum ersten Mal im Leben hörst du das Wort Flügelhemdchen, offenbar benötigst du etliche davon. Du kaufst jetzt die großen Sachen, den Kinderwagen, das Körbchen, die Badewanne; du wäschst Babykleider mit einem Waschpulver, von dem du vorher noch nie gehört hast. Und die ganze Zeit schiebst du dir die Hand unter den Bauch und wiegst dein Baby im Arm, damit es ruhig wird.
Du staunst, mit welcher Klarheit und inneren Sammlung du in die letzte Phase der Schwangerschaft eintrittst. Und wie leidenschaftlich du den Verlust erlebst, der diese Phase begleitet, düster, erotisch und wild, noch nie hast du solche Gefühle gekannt. Den Verlust von Gabriel und allem, was er verkörperte. Es ist, als wärst du in ein neues Reich versetzt worden, würdest endlich dein eigenes Leben in Besitz nehmen.
Deine Mutter ruft an, erkundigt sich nach deinem Befinden, das hat sie in letzter Zeit oft getan. Sie möchte wissen, wann Cole zurückkommt. Du sagst ihr, morgen, verschweigst ihr aber, dass du keine Ahnung hast, was dich dann erwartet. Du fragst sie, ob sie kommen und eine Weile bleiben, in der Zeit der Geburt bei dir sein möchte. Sie verneint. Warum denn nicht, hakst du nach. Weil es eine ganz besondere Zeit für Cole und dich ist, erklärt sie: Die Ankunft des ersten Kindes ist in jeder Beziehung ein wunderbares Ereignis voller Magie, und da sollte sich eine Schwiegermutter nicht dazwischendrängen. Ich weiß das nämlich, weil ich es selbst nie gehabt habe. Aber ich habe es in meiner Umgebung oft beobachtet.
Ach Mama. Das tut mir so Leid für dich.
Ihre Worte versetzen dir einen Stich ins Herz. Jetzt, wo du selbst fast Mutter bist, öffnet sich endlich eine Tür zwischen euch und du verstehst das Leben deiner Mutter ein wenig besser.
125. Lektion Alle Verschwendung ist Sünde
Heute Abend kommt Cole zurück. Es drängt dich dazu, Theo anzurufen, auch wenn dir nicht klar ist, warum ausgerechnet jetzt. Beim zweiten Läuten legst du auf, eigentlich willst du doch nicht mit ihr reden: Ihre Freundschaft war immer so fordernd, und wenn du ein Baby hast, musst du mit deiner Zeit strenger haushalten. Außerdem sind zu viele Monate des Schweigens zwischen euch, die nach einer Erklärung verlangen, zu viele Fragen, die du stellen müsstest. Du weißt, wenn du ihr die Tür nur einen winzigen Spalt
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