Bis auf die Knochen
Platze wie Shorts und T-Shirt in einem Sinfoniekonzert. Doch auf der Beerdigung w ü rde ich problemlos in der Menschenmenge aufgehen.
Ich hatte nicht gewusst, dass Jess religi ö s war; und eigentlich wusste ich das immer noch nicht, doch der Ort ihres Gedenkgottesdienstes – die St.-Paul-Episkopalkirche – lie ß darauf schlie ß en, dass entweder Jess oder derjenige, der sich um ihre Beerdigung gek ü mmert hatte, es waren. Wie seltsam, ü berlegte ich, als ich mich schon wieder dem Stadtrand von Chattanooga n ä herte, jemandem k ö rperlich so nah zu kommen, wie Jess und ich es uns zuletzt gekommen waren, und doch fast nichts ü ber seine Seele oder zumindest ü ber seinen Glauben zu wissen. Es gibt so vieles, was ich jetzt nicht mehr ü ber sie erfahren werde, dachte ich, und die Erkenntnis st ü rzte mich in eine weitere dunkle Spirale der Trauer.
St. Paul lag in der Innenstadt von Chattanooga, drei Blocks vom Kongresszentrum entfernt und praktisch l ä ngs des Highway 27, der Hochstra ß e, die den westlichen Rand des Gewerbegebietes umfuhr, bevor sie den Tennessee River ü berquerte und nach Nordosten dem Tal des Flusses folgte. Ich nahm die zweite Abfahrt in die Innenstadt, die mich n ö rdlich auf die Pine Street brachte. Da ich fr ü h dran war, konnte ich an einer Parkuhr direkt gegen ü ber dem Haupteingang der Kirche parken.
St. Paul war ü ber Stra ß enniveau errichtet, und der Eingang lag neben einem hohen Glockenturm aus rotem Backstein, der sich ü ber einem Sockel aus grauem Kalkstein erhob. Episkopalisten hatten, wie ich beobachtet hatte, ein Gesp ü r f ü r Architektur und genug Geld, diesem Gesp ü r auch nachzugeben. Als ich die Stra ß e ü berquerte, um zur Vordertreppe zu gehen, fielen mir am Bordstein mehrere Polizeiautos auf. Genau genommen hatte Jess nicht zur Polizei geh ö rt, doch sie war Teil der ausgedehnten Familie der Strafverfolgungsbeh ö rden gewesen, und der Ehrenkodex galt darum auch f ü r sie: Man tritt an, um die gefallenen Kameraden zu ehren. Der ungeschriebene, finsterere Folgesatz lautete, wie mir im Laufe der Jahre klar geworden war, dass je schockierender der Tod, desto gr öß er der Aufmarsch, als k ö nnte eine Demonstration postumer Solidarit ä t irgendwie die Trag ö die wettmachen, die eine oder einen der Ihren ereilt hatte – oder die n ä chste verh ü ten.
Als ich zwei Treppen hinaufstieg und einen gepflasterten Platz direkt unterhalb der doppelfl ü geligen Holzt ü r zum Mittelschiff erreichte, fiel mir auf, dass zwei uniformierte Beamte den Eingang flankierten. Ich dachte, sie w ü rden vielleicht Programme austeilen, doch ihre H ä nde waren leer, also kam ich zu dem Schluss, dass sie einfach eine Art Ehrenwache hielten. Einer der Beamten schaute in meine Richtung; ich nahm Blickkontakt mit ihm auf und nickte ernst. Er trat auf mich zu. » Dr. Brockton? «
» Ja, hallo «, sagte ich und hielt ihm die Hand hin. Auf einem Messingschild auf seiner Brust stand der Name MICHAEL QUARLES. » Haben wir schon einmal zusammengearbeitet, Officer Quarles? «
» Nein, Sir «, sagte er, » wir sind uns noch nicht begegnet. Dr. Brockton, es tut mir leid, aber Sie haben hier keinen Zutritt.«
» Wie bitte? «
» Sie haben hier keinen Zutritt.«
» Was soll das hei ß en? «
» Genau das, was ich gesagt habe, Sir. Es ist Ihnen nicht erlaubt, die Kirche zu betreten; eigentlich d ü rften Sie sich nirgendwo auf Kirchengrund aufhalten, also muss ich Sie bitten, diese Treppe wieder hinunterzugehen.«
» Dies ist doch der Gedenkgottesdienst f ü r Dr. Carter, oder? « Er nickte einmal. » Sie war eine Kollegin und Freundin von mir «, sagte ich.
» Vielleicht «, sagte er, » aber es gibt eine einstweilige Verf ü gung, unterzeichnet von Richter Avery, die Ihnen untersagt, heute diese Kirche zu betreten oder den Fu ß auf Kirchengrund zu setzen. Also bitte ich Sie – nein, Sir, ich fordere Sie auf –, dieses Grundst ü ck jetzt zu verlassen.«
Ich starrte ihn an wie vor den Kopf geschlagen. » Wer hat diese einstweilige Verf ü gung beantragt? «
» Der stellvertretende Staatsanwalt Preston Carter.« Jess’ Exmann.
» Das ist nicht richtig «, protestierte ich. » Er hat keinen Grund daf ü r.«
» Wenn ich richtig geh ö rt habe, hat man Sie des Mordes an ihr angeklagt «, sagte er. » Ich w ü rde das einen ziemlich triftigen Grund nennen. Jedenfalls sind wir hier, um eine einstweilige Verf ü gung durchzusetzen, die Ihnen den Zutritt zu diesem
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