Bis auf die Knochen
der Stelle, wo sich die Flure kreuzten und das Treppenhaus lag, und stieg vier Treppen hinauf. Wieder wandte ich mich nach links, wo ich eine weitere altmodische Holzt ü r fand. Diese war nicht beschriftet, doch sie lag direkt ü ber der anderen, und als ich die Hand darauf legte, sp ü rte ich, dass das Holz im Takt der Orgelb ä sse vibrierte. Oben an der T ü r – au ß erhalb der Reichweite von Sonntagsschulkindern – war ein kleiner Riegel, wie man sie ü berall in Tennessee an Fliegengittert ü ren fand.
Ich schob den Riegel zur Seite, dr ü ckte die T ü r auf und fand einen dunklen, schmalen Durchgang, acht oder zehn Schritte lang, der zu den B ö gen f ü hrte, die ich von unten gesehen hatte. Als ich mich zum n ä chsten Bogen vortastete, h ö rte ich zu meiner Linken einen Satz Pfeifen; und als ich quer durch die Apsis durch den schmalen Bogen vor mir schaute, sah ich den anderen Satz. Zus ä tzlich zu den polternden Basst ö nen und den hohen Trillern und all den dazwischenliegenden Oktaven konnte ich das Rauschen der Luft in den Pfeifen und das Klicken der Ventile tief im Innern der Orgel h ö ren. Der Bogen erlaubte mir einen Blick aus der Vogelperspektive auf den Altar und die emporstrebende Marmorkonstruktion, die ihn ü berragte wie ein sechs Meter hohes Puppenhaus.
Ein Priester in wei ß em Gewand trat langsam in Sicht. Er hielt eine ungef ä hr drei ß ig Zentimeter hohe Messingurne in den H ä nden, die er auf ein Holzgestell vor dem Altar stellte. Mit einem Schock wurde mir klar, dass die Urne wohl Jess’ Asche enthielt. Aus meiner Forschungsarbeit wusste ich, dass ihre Asche – zermahlene Reste kr ü meliger Knochen, deren Mineralien das Einzige waren, was die Hitze des Ofens ü berlebte – wahrscheinlich um die f ü nf Pfund wog. Ich wusste, dass die chemische Zusammensetzung haupts ä chlich aus Kalzium bestand, versetzt mit einer Unmenge Spurenelementen. Und ich wusste, dass Jess, ihr ureigenes Wesen, nicht in den Spurenelementen in dieser Urne war.
Als der Priester sich den Altarstufen n ä herte, erreichte die Musik ein Crescendo, das meine Z ä hne zum Summen brachte. Dann verklang die Musik, und der Priester begann zu sprechen.
» Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen «, sagte er. » Wo k ö nnen wir Hilfe suchen? Bei dir allein, o Herr, den unsere S ü nden erz ü rnt haben.«
Aus dem Mittelschiff unter mir erhob sich ein Chor von Stimmen. » Heiliger Gott, heiliger und allm ä chtiger, heiliger und gnadenvoller Retter «, rezitierte die Gemeinde, »liefere uns nicht der Bitterkeit eines ewigen Todes aus.« Aha, antwortete mein Herz, aber was ist mit der Bitterkeit eines leeren Lebens? Ich h ä tte gerne mit Jess getauscht, wenn das m ö glich gewesen w ä re.
Der Priester begann zu singen, eine hohe Tonfolge, die keinerlei erkennbare Melodie hatte, und ich konnte irgendwann dem Text nicht mehr folgen, sondern kehrte zur ü ck zu den Er ö ffnungsworten der Messe: » Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.« Nein, es ist umgekehrt, dachte ich. Mitten im Tod waren Jess und ich ä u ß erst lebendig. Es war unser t ä gliches Brot. Wir waren komische K ä uze, wir beide: eine Ä rztin, die nie einen lebenden Patienten hatte, und ein Professor aus dem Elfenbeinturm, der bis zu den Ellbogen in Tod und zerst ü ckelten Leichen steckte. H ä tten wir ein seltsames Leben zusammen f ü hren k ö nnen, ü berlegte ich, h ä tten wir in Knoxville oder in Chattanooga oder irgendwo dazwischen eine Wohnung und Herzen und K ö rper teilen k ö nnen? Das Power-Couple der Todes-Schickeria, dachte ich und l ä chelte ü ber den bitteren Humor, selbst als mir Tr ä nen in die Augen traten wegen des Verlusts dessen, was h ä tte sein k ö nnen: Ich wusste, dass ich um etwas trauerte, was nur in meiner Phantasie existiert hatte, doch der Verlust schmerzte trotzdem tief.
Als die Gemeinde eine Antwort auf einige Gebete gab, die ich nicht geh ö rt hatte, verlagerte ich mein Gewicht, und dabei trat ich gegen einen Stuhl, der auf dem dunklen Durchgang versteckt war. Er knirschte ü ber den Steinboden, und der Priester schaute hoch in meine Richtung. Als er mich sah, riss er die Augen auf vor Ü berraschung, dann kniff er sie scharf zusammen. Mir ging auf, dass die Polizei ihn wahrscheinlich ü ber mich, den verbotenen Eindringling, informiert hatte, und pl ö tzlich stellte ich mir vor, wie er den Gottesdienst – Jess’ Gedenkgottesdienst – unterbrach, um mich wegschleifen zu lassen.
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