Bis das Blut gefriert
Rand hinweg und in den Brunnen hinein. Rosanna’s Lippen waren trocken geworden. Sie leckte darüber hinweg, aber auch sie konnte in der Tiefe nichts erkennen.
Aber sie hörten das Geräusch. Jetzt waren sie ganz sicher, dass es im Brunnen seinen Ursprung besaß. Es blubberte, und es erreichte sie wie ein böses Echo.
In der Tiefe schien sich die Erde geöffnet zu haben, um etwas Furchtbares herauszulassen, das den Blicken der Menschen bisher verborgen geblieben war. Etwas Unheimliches, nicht Fass- und auch nicht Erklärbares. Eine Masse, die bestimmt kein Wasser war, denn das Geräusch hörte sich anders an.
Rosanna flüsterte Worte vor sich hin, die sie selbst nicht verstand. Sie merkte auch, dass die Kälte sich noch längst nicht zurückgezogen hatte. Sie stieg von unten hoch. Sie griff nach ihrem Körper und umgab ihn wie ein Etui.
»Das ist doch grauenhaft, Flavio. Lass uns gehen. Ich... ich... nicht mehr länger hier bleiben. Da melden sich die Toten, die Geister. Oder was auch immer.«
Flavio antwortete ihr nicht. Er stand wie unter einer fremden Macht und schien selbst zu Stein geworden zu sein.
»Warum gehst du denn nicht weg?« Rosanna hatte Mühe, nicht zu schreien.
»Weil da was ist.«
»Im Brunnen?«
»Ja... ja...«, erwiderte er wie geistesabwesend. »Da unten ist wirklich was, und es kommt sogar hoch.«
»Du bist verrückt.«
»Nein, schau selbst!«
Rosanna zögerte. Sie wusste nicht, ob sie ihrem Freund glauben sollte. Aber die Geräusche waren nicht verstummt. Nach wie vor hörten sie das Blubbern und auch Schmatzen, als wäre ein Ungeheuer dabei, sein Maul zu bewegen.
Sie beugte sich widerwillig über den Brunnenrand hinweg – und jetzt sah sie es auch. In der Tiefe, vielleicht schon in der Mitte des Brunnens, drängte sich etwas in die Höhe. Es war ebenfalls dunkel, aber nicht so schwarz wie die Leere darüber. Es musste eine Masse sein, die zwar von den Innenwänden eingeklemmt wurde, aber trotzdem schaukelte und an zähes Öl erinnerte.
Das Blubbern war geblieben. Auch die Kälte hielt die beiden fest, und sie merkten jetzt, dass sie tatsächlich aus dem Brunnen zu ihnen in die Höhe drang.
Also war die Flüssigkeit so kalt wie Eis, das möglicherweise seinen kalten Nebel in die Höhe schickte, der ebenso dünn wie auch unsichtbar war.
Die Masse stieg hoch und höher. Sie war jetzt besser zu erkennen, und es malten sich zudem auf der Oberfläche einige hellere Flecken oder Gegenstände ab.
Zugleich erreichte sie der Geruch. Er war sehr plötzlich da, und die beiden hatten sich nicht darauf einstellen können. Deshalb schlug dieser Gestank mit einer regelrechten Wucht gegen ihre Gesichter, und er raubte ihnen den Atem.
Keiner der beiden hatte jemals in seinem Leben so etwas gerochen. Es war einfach schlimm und grauenhaft. Der Gestank war nicht zu identifizieren. Alles was schlecht roch musste sich in ihm versammelt haben. Der Geruch nach Verwesung, nach altem Fleisch, aber auch ein süßlicher und zugleich metallischer Geschmack.
So sehr sich die beiden auch angeekelt fühlten, so stark waren sie davon fasziniert. Sie kamen einfach nicht weg und hatten ihre Hände auf das kalte Gestein gelegt, als sollten sie dort festfrieren.
Auf der Oberfläche dieser Flüssigkeit schwamm tatsächlich etwas. Es war heller, es bewegte sich leicht hin und her. Wenn das Zeug Wellen warf, dann schwappten die Gegenstände zusammen und es war ein hohles Geräusch zu hören.
»Wasser ist das nicht«, flüsterte Rosanna, die die Sprache wiedergefunden hatte. »Das ist was ganz anderes. Oh verdammt, ich weiß es!«, rief sie plötzlich. Ruckartig drehte sie den Kopf zur Seite, um ihren Freund anzuschauen. »Blut!«, kreischte sie. »Verdammte Scheiße, das ist Blut. Blut aus dem alten Brunnen...«
Flavio sagte nichts. Er war kein Held. Er war ein normaler Typ. Und cool war er höchstens in den Discos und bei seinen Freunden. Rosanna hatte Recht. Das war kein Wasser. Das war auch kein Öl. Das konnte nur Blut sein, und es stank auch irgendwie wie altes Blut. Jedenfalls ging der junge Mann davon aus.
Es schwappte weiter hoch. Auf der Oberfläche erschienen Blasen, die Halbkugeln bildeten, um dann wieder zu zerplatzen. Kleine Spritzer oder Tropfen blieben dann für winzige Augenblicke in der Luft stehen, bis sie wieder zusammenfielen.
Nicht nur Blasen brachte die Flüssigkeit mit. Sie hatte aus der Tiefe des Brunnens noch etwas hervorgeholt, das seit langer Zeit dort gelegen haben musste.
Beide
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