Bis das Blut gefriert
zwei Zimmer in diesem schmalen Haus. Das zweite diente als Gästezimmer.
Sie stieg die Holztreppe hinab, die immer glänzte. Es war ein Hobby ihrer Mutter, sie sauber zu halten. Manchmal hatte Rosanna das Gefühl, in einen braunen Spiegel zu schauen, der sich bis zur Parterre hin fortsetzte.
Im Haus selbst war es so still, dass ihr ein leichter Schauer über den Rücken floss. Sie wurde durch nichts abgelenkt, und deshalb konnten all die Gedanken wieder zurückkehren, die sich mit der vergangenen Nacht beschäftigten.
Es war kein Traum gewesen. Sie hatte alles so erlebt. Nichts war hinzugedichtet, und sie spürte, wie sich ihr Magen bei der Erinnerung daran zusammenzog. Ein mit Blut gefüllter Brunnen. Hinzu kam das Gerücht, das im Dorf seine Runde machte und das der Pfarrer weder bestätigen noch dementieren wollte.
Hier war einiges aus dem Gleichgewicht geraten, das stand für sie fest. Die göttliche Ordnung hatte sich gelockert. Unheimliche Mächte waren aus irgendwelchen dunklen Reichen an die Oberfläche gekrochen und hatten die Regie übernommen. In ihrer kleinen, überschaubaren Welt war der Frieden gestört.
Im unteren Wohnbereich war der Fußboden mit Steinfliesen belegt worden. Durch die schmalen Fenster schien die Sonne und malte helle Streifen auf die Erde oder die Wände. Fliegen summten in der Stille. Die Tür zur Küche stand offen. Es roch noch nach Kaffee. Der Zugang zum Bad lag in einer kleinen Nische. Erst nach dem Einzug hatte es Rosanna’s Vater eingerichtet.
Sie wollte hingehen und die Tür öffnen, als das Telefon klingelte. Das Geräusch erreichte sie aus dem Wohnraum. Es war das größte Zimmer hier unten. Rosanna öffnete die Tür und lief in das Halbdunkel hinein, denn ihre Mutter hatte wegen des starken Sonnenscheins die Rollos vor die Fenster gezogen.
Auch die Möbel waren dunkel und viel zu wuchtig für die Größe des Raums, aber Rosanna hielt sich mit Kritik zurück. Das Mobiliar stammte von den Großeltern väterlicherseits, und ihre Eltern würden nie darauf verzichten.
Es hatte bereits fünfmal geklingelt, als Rosanna das Telefon erreichte und abhob. Sie ließ sich in einen daneben stehenden Sessel fallen und flüsterte nur ein »Si...?«
»Ah, du bist ja doch da.«
»Flavio.«
Er lachte. »Klar. Ich wusste doch, dass deine Mutter zum Arzt wollte. Hast du mir gestern erzählt.«
»Komisch, habe ich vergessen.« Sie strich sich durch’s Haar.
»Dir geht es nicht gut – oder?«
»Nein. Ich habe schlecht geschlafen. Das war eine beschissene Nacht, die ich nicht noch einmal erleben möchte. Aber jetzt geht es wieder. Ich habe meiner Mutter nur erzählt, dass ich mich schlecht fühle. Deshalb bin ich auch nicht in die Schule gegangen.«
»Klar, kann ich verstehen. Und wie fühlst du dich wirklich?«
»Schlecht.«
»Das ist...«
»Kein Grund zur Panik, Flavio. Ich werde den Tag über hier im Ort bleiben...«
Er unterbrach sie. »Und was ist mit heute Abend? Hast du vergessen, dass ich kommen will? Nicht erst in der Nacht. Wenn ich Feierabend habe, dann dusche ich und komme so schnell wie möglich zu dir. Dabei bleibt es doch?«
Sie hatte die Besorgnis aus Flavio’s Stimme herausgehört und gab ihm schnell Recht. »Klar, es bleibt dabei. Sollte etwas dazwischen kommen, werde ich mich melden.«
»Okay, dann mach’s gut. Und denk nicht mehr zu stark an die vergangene Nacht.«
Rosanna lachte scharf in den Hörer. »Das sagt sich so leicht, aber es ist verdammt schwer.«
»Du bekommst das schon geregelt. Vielleicht ist auch alles nur ein böser Traum gewesen.«
»Glaubst du das?«
»Nein, ehrlich gesagt.«
»Eben. Es war kein Traum. Wir haben es erlebt. Es geht hier etwas vor. Ich habe das Gefühl, dass Limano von einem Fluch befallen ist. Er hat sich lange versteckt gehabt, nun aber tritt er aus dem Dunkel heraus. Ich denke, dass alle Bewohner Angst haben müssen. Nicht nur ich.«
»Ich muss Schluss machen. Du weißt, die Arbeit. Ich küsse dich, cara mia .«
»Ich dich auch.«
Mehr Worte wechselten die beiden nicht. Rosanna legte auf und lehnte sich zurück. Sie spürte das kühle Leder an ihrem schweißnassen Rücken und schloss für einen Moment die Augen. Das Gespräch mit Flavio hatte sie innerlich aufgewühlt und die Bilder der letzten Nacht wieder präsent werden lassen. Ihr wurde kalt, denn sie stand mit den nackten Füßen auf dem Steinboden.
Die Dusche wartete. Wieder durchquerte sie die Stille. Auch von draußen hörte sie nicht viele Stimmen.
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