Bis das der Biss uns scheidet
von einem Zug überrol t, oder?«
Jareth gluckst. »Keine Sorge«, beruhigt er mich und klopft mit seinem Brecheisen auf eine der Schienen. »Diese Gleise werden schon lange nicht mehr benutzt.« Und tatsächlich, bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass die Gleise mit einer dicken Rostschicht überzogen sind. Hier ist seit Jahren kein Zug mehr durchgefahren. Okay, das beruhigt mich etwas.
Weniger beruhigend ist die Holzbalkendecke, die jedes Mal heftig wackelt, wenn oben auf den Straßen ein Auto vorüberfährt. Als wir weiter durch den Tunnel gehen, richte ich mit wachsender Sorge meine Taschenlampe auf die extrem verrotteten Stützbalken. Also echt, ist das wirklich alles, was den dichten New Yorker Verkehr daran hindert, in die Untergrundwelt herunterzukrachen? Ich sage mir, dass diese Tunnel seit über hundert Jahren existieren und sich nicht ausgerechnet diesen Tag aussuchen werden, um einzustürzen. Aber auch der Gedanke entspannt mich nicht so richtig, vor allem nach dem erneut ein Auto vorbeifährt und bröseliger Dreck auf meinen Kopf regnet.
Schweigend gehen wir weiter, zum Soundtrack von gelegentlichem Tropfen und jeder Menge Quietschgeräuschen in der Ferne, die ich möglichst versuche zu ignorieren. Auch wenn es die meiste Zeit totenstil ist hier unten, stoßen wir ab und zu auf seltsame Anzeichen von Leben. Einmal kommen wir sogar an einem kleinen, durch Ziegelmauern abgeteilten Zimmer vorbei, direkt neben den Schienen. Darin stehen ein Tisch, Stühle und ein paar mit Spinnweben überzogene Milchkisten, die als Regale dienen, sowie ein Haufen zerlumpter Decken, die zu einem Bett zurecht gemacht sind.
Fasziniert entferne ich mich von den Gleisen, um mir das genauer anzusehen, und entdecke ein zwischen zwei Steinen eingeklemmtes Notizbuch. Ein Tagebuch?
Ich versuche, mir vorzustellen,wie es wäre, tag ein, tag aus hier unten in der Dunkelheit zu leben, nur mit den Ratten als Gesel schaft. Der Gedanke macht mich traurig, ebenso wie der Tagebucheintrag, den ich zufäl ig aufschlage. »Mit jedem Schritt sinke ich ein unter die Haut der Straße und gehe immer weiter auf das Ende zu, meinen Tod...«
»Leg das weg«, befiehlt Jareth, der den Kopf in das Zimmer steckt. »Wir müssen weiter.«
Widerstrebend lege ich das Tagebuch wieder hin und folge Jareth weiter durch den U-Bahn-Tunnel, wobei ich versuche, mir die Person vorzustel en, die derart lyrische Zeilen schreibt, während sie unter der »Haut« der Welt zu überleben versucht. Wie ist sie hierhergekommen? Warum ist sie geblieben?Lebt sie immer noch irgendwo hier unten? Ist sie glücklich oder verängstigt oder beides zugleich? Ich steigere mich dermaßen in meine Fantasie von dem obdachlosen Poeten hinein, dass ich es zuerst gar nicht bemerke, als wir dem dunklen Tunnel in eine große U-Bahn-Station mit Tonnengewölbe gelangen, eine Endstation.
Wie alles in dieser geheimen, unterirdischen Welt ist sie verlassen und halb verfal en, zugleich aber auch unglaublich schön. Ein Kunstwerk aus bunten Kacheln, feinem Mauerwerk und atemberaubend hohen Bögen. Natürlich sind die Kacheln längst mit Graffiti überzogen und dreckige Spritzen
liegen um die Steinbänke auf dem Bahnsteig herum. Doch ich blende diese kleinen hässlichen Details für einen Moment aus und stel e mir den Bahnhof vor, wie er früher einmal war, wimmelnd von eiligen New Yorker Geschäftsleuten und vornehmen Damen in Pelzmänteln und schickenHüten.
Jareth springt auf den Bahnsteig und reicht mir die Hand, um mich hochzuziehen. Ich klettere nach oben und reibe mir die schmerzenden Beine. Wir sind den halben Morgen gelaufen und nach dem wenigen Schlaf letzte Nacht und dem Blutmangel bin ich fix und fertig. Ich sinke auf eine Bank in der Nähe und stoße einen erleichterten Seufzer aus. Mein Blick fäl t auf eine große gesprühte Aufschrift auf der Bahnsteigseite gegenüber.
Im Dezember 1995 haben die vergessenen Männer des Tunnels städtische Wohnmöglichkeiten erhalten. Sie haben gerade mit dem Umzug begonnen.
»Es gab früher ganze Gemeinschaften, die hier unten in diesen verlassenen Tunneln gelebt haben«, erklärt Jareth. »Doch im Zuge der Bauarbeiten in den letzten zwanzig Jahren wurden die meisten rausgeworfen und ihre selbstgebauten Unterkünfte zerstört.«
Also ist mein Dichter wahrscheinlich schon lange nicht mehr hier und hat sein oder ihr Tagebuch hier zurückgelassen. Der Gedanke macht mich erneut seltsam traurig.
»Die Vampire aber nicht, oder?«, frage ich, als
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