Bis dein Zorn sich legt
am Eis, das nur immer weiter einstürzt.
Rebecka tastet mit der einen Hand nach dem Rand des Eislochs, mit der anderen packt sie Tintins Fell.
Das Wasser hat eine starke Strömung. Sie spürt, wie ihre Beine unter das Eis gerissen werden. Sie kann sich nicht wehren, die Strömung ist zu heftig. Die Kälte saugt ihr alle Kraft aus dem Leib.
Sie bietet alle Stärke auf, die sie besitzt, und macht im Wasser einige energische Beinbewegungen. Zugleich hebt sie mit der einen Hand Tintins Fell und drückt mit der anderen ihr Hinterteil nach oben.
Und Tintin schafft es. Der Hund kann sich auf das Eis ziehen. Das Eis trägt sie.
»Ruf den Hund«, schreit Rebecka Hjalmar an. »Ruf sie.«
Und Hjalmar ruft. »Hierher, Herzchen! Ja, komm her. Guuut so!«
Und der Hund läuft zu ihm. Auf dem letzten Stück taumelt Tintin vor Erschöpfung. Schleppt sich weiter. Sackt neben ihm zu Boden.
»Hast du sie?«, ruft Rebecka.
Ihre Beine sind vor ihr unter dem Eis. Irgendwer scheint sie an den Füßen zu ziehen.
»Hast du sie?«
Und Hjalmar antwortet mit tränenerstickter Stimme.
»Ich hab sie. Sie ist hier bei mir.«
»Lass sie nicht los«, ruft Rebecka.
»Ich halte sie am Halsband fest«, ruft er. »Ich lasse nicht los.«
Jetzt kann sie ihm nichts mehr zurufen. Sie muss. Sie muss. Versuchen, Widerstand zu leisten.
Sie fuchtelt vergeblich mit den Händen, als ihre Hüften zur Eiskante hochgedrückt werden und sie fast auf dem Rücken liegt. Sie ist dabei, unter das Eis gezogen zu werden. Der Schnee prasselt in ihr Gesicht. Sie kann ihn aus dem Gesicht schütteln, dabei geht ihr erst auf, wie verdammt kalt es im Wasser ist.
Sie kann sich nicht mehr wehren. Jetzt liegt ihre Schulterpartie unter der Eiskante. Die Strömung zieht an ihr, drückt ihren Körper gegen die Unterseite des Eises.
Dann hört sie, dass Hjalmar zu singen anfängt.
Hjalmar packt Tintin am Halsband. Er hält sie mit eisernem Griff fest. Sie zittert vor Kälte.
Abermals versucht er, sich aus dem Schnee zu befreien, aber das ist unmöglich.
Rebecka ruft und fragt, ob er Tintin hat. Und er antwortet, das habe er.
Er hält Tintin fest und denkt, das habe er. Das ist das Einzige, was er im Moment hat. Dass der Hund immerhin lebt. Dass er leben wird. Der Hund winselt. Es klingt wie ein Weinen. Tintin legt sich in den Schnee und fiept.
Und jetzt bricht Hjalmar ebenfalls in Tränen aus. Er weint um Wilma. Um Rebecka. Um Tore weint er und um Hjörleifur. Um sich selbst. Über das viele Fett, das im Schnee feststeckt wie in einem Schraubstock.
Und dann fängt er an zu singen.
Das kommt ganz wie von selbst. Und anfangs ist seine Stimme brüchig und ungeübt, aber dann wird sie immer stärker.
»Wie eine herrliche göttliche Quelle, reich und mächtig, tief und prächtig«, singt er. »Sind Liebe, Wahrheit und auch Gnad, die Jesus Christus für uns hat.«
Er hat diesen Choral seit Jahren nicht mehr gehört. Aber die Worte kommen ohne das geringste Zögern.
»Er öffnet mir das Perlentor, nicht länger schmachte ich davor. Denn er erlöst mich durch sein Blut, macht damit all mein’ Sünden gut.«
Die Spätwintersonne brennt auf den glitzernden weißen Schnee über dem Eis. In meilenweitem Umkreis ist kein Mensch vorhanden, außer Rebecka im Eisloch und Hjalmar im Schnee. Die Schatten liegen blau in der Fahrspur und der Spur, in der an diesem Tag Hunde und Menschen versunken sind.
Rebecka liegt im Wasser. Ihr Körper ist unter dem Eis. Oberhalb der Eiskante kann sie die Baumwipfel des Waldrandes am anderen Ufer sehen. Das hat sie nicht erreicht. An den Fichten mit ihren schwarzen Stämmen sitzen die Tannenzapfen oben dicht an dicht.
Die Birken sind zart und dünn. In Südschweden fangen diese feingliedrigen Bäume jetzt an zu blühen. Magnolien und Kirschen wie fein gekleidete junge Damen im Park. Die Birken hier sind dünn, ja, aber sie haben rein gar nichts von einer feinen Dame. Knorrig, struppig und gekrümmt wie alte Finnenweiber stehen sie am Waldrand und halten Ausschau nach dem Frühling.
So weit wäre es gar nicht gewesen, denkt sie müde und schaut die Bäume an. Ich hätte weiterlaufen müssen. Ich hätte nicht stehen bleiben dürfen. Das war dumm.
Hjalmar singt hinten am Ufer wie ein Verrückter. Aber seine Stimme ist gar nicht schlecht. »Wunder über alle Wunder, alles ist mir nun vergeben. Seine wunderbare Güte preis ich gar mein ganzes Leben.« Als er den Refrain anstimmt, scheinen die Raben mitsingen zu wollen. Sie kreischen und
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