Bis du erwachst
langsam die Nummer ein, die sie inzwischen leider auswendig kannte.
Zwei Klingelzeichen später: «Kann ich kommen?»
«Du kannst immer kommen», erwiderte die tiefe Stimme.
Sie wischte sich das Gesicht ab und trug eine neue Schicht Lipgloss auf. Die Kleider, die sie im Krankenhaus getragen hatte, behielt sie an. Es war vollkommen sinnlos, sich jetzt aufzubrezeln. Stewart würde ihr die Nähe geben, die sie brauchte. Sie würde sich geliebt, begehrt und ganz fühlen – wenn auch nur für diese eine Nacht. Mit dem Ekel würde sie dann morgen früh fertig werden. Sie schrieb für Kitty einen Zettel und befestigte ihn mit dem orange Kidzline-Magneten am Kühlschrank.
Bin ausgegangen. Komme morgen früh wieder.
Liebe Grüße, Mills
8
Am nächsten Morgen kam Millie nach Hause und traf Kitty vor dem Kühlschrank hockend und trällernd an. «Als ich heute früh an den Kühlschrank ging, um mir was zu essen zu machen, hätte mich der Geruch beinahe umgehauen», erklärte sie.
«So schlimm kann es doch nicht gewesen sein!», meinte Millie und stellte ihre Handtasche auf dem Holztisch ab.
«Doch!», beharrte ihre Mutter, stand auf und musterte Millie von oben bis unten.
«Du siehst ja noch schlimmer aus als ich, und dabei leide ich unter Jetlag. Warst du feiern?»
«Natürlich nicht!», erwiderte Millie. Glaubte Kitty etwa, sie könnte feiern gehen, während Lena im Krankenhaus lag?
«Millie, du bist doch sicher nicht so faul, dass du nicht mal den Kühlschrank säubern kannst?»
Millie starrte auf die Süßkartoffeln, die mit einem Schimmelrasen bewachsen waren. Knoblauch und Äpfel waren noch in Ordnung, aber die Kartoffeln waren entschieden hinüber. Kitty nahm den Schwamm wieder auf und machte sich an die Arbeit. Millie konnte sich kaum rühren. Es waren die letzten Lebensmittel, die Lena gekauft hatte, bevor sie in denTiefschlaf gefallen war. Sie hatte sie eigenhändig ausgesucht, bezahlt und in den Kühlschrank gelegt. Sie wegzuwerfen würde bedeuten, etwas wegzuwerfen, was zu Lena gehörte.
Millie war, so unglaublich das klang, einfach noch nicht bereit für diesen Schritt. Genau wie sie noch nicht in Lenas Zimmer gehen wollte.
Als Millie sah, wie Kitty den großen Müllbeutel mit den verdorbenen Lebensmitteln zuband, brach es ihr fast das Herz. «Kannst du das runter zu den Mülltonnen bringen?», bat ihre Mutter.
Draußen warf Millie den Müll in die große grüne Tonne und schloss den Deckel. Es war ein sonniger Tag, ein Auto fuhr mit hämmernden Bässen vorbei. Zwei Häuser weiter warf ein Nachbar Flaschen in den Altglascontainer. Das Leben ging wie immer seinen Gang, nur für Lena war die Zeit erstarrt.
Millie hatte das Haus oberflächlich gereinigt, aber Kitty brachte es zum Glänzen. Sie verbrachten den ganzen Tag miteinander und gingen sogar zusammen einkaufen.
«Lass uns was Feines zum Abendessen kochen. Cara könnte auch rüberkommen. Das wäre wie in alten Zeiten, wir alle an einem Tisch.»
Wenn Millie an ihre Kindheit dachte, erinnerte sie sich eher an jede Menge Fertiggerichte, die Lena ihnen serviert hatte, während ihre Mutter irgendwo beim Vorsprechen war oder sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Jetzt war sie zu höflich, um die rosaroten Erinnerungen ihrer Mutter zu zerstören, und sie wollte ihnen beiden auch nicht den Tag verderben, der bis jetzt sehr schön gewesen war.
Millie rief Cara an. Sie wollte zwar kein Essen, hatte aber ohnehin vorgehabt, später vorbeizukommen.
Kitty räumte gerade die letzten Teller weg, als Cara hereinkam.
«Ich hab dir was vom Hähnchen aufgehoben», sagte Kitty.
«Vielen Dank, aber Ade kocht später noch. Ich bin nur gekommen, um nach Rechnungen und Kontoauszügen zu schauen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie noch genug Geld auf dem Konto hat, um für die laufenden Kosten aufzukommen, während sie … weg ist.»
«Sie bekommt ihr Gehalt doch weiter, es sollte also genügend Geld da sein», sagte Kitty lässig.
«Schauen wir lieber alles durch. Lasst uns nachsehen, ob irgendwelche Versicherungen bezahlt werden müssen», entgegnete Cara und ließ sich auf dem gemütlichen Sofa nieder, das damals zwanzig Pfund auf dem Flohmarkt gekostet hatte. «Du weißt doch, wie Lena war … ist. Sicher hat sie alles irgendwo aufgelistet.»
«Mein vernünftiges Mädchen», sagte Kitty. Cara ärgerte sich. Aber dann kam ihr ein Gedanke. «Wusstest du, dass sie eine Liste gemacht hat, wann was bezahlt werden muss, damit sie die Kontoauszüge
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