Bis du erwachst
sie ihn.
«Wir haben geredet, ja, aber nur ein paar Minuten lang und auch nur einmal. Sie hat unglaublich tolle …» Michael spürte, wie er rot wurde.
«Passen Sie bloß auf, was Sie jetzt sagen.»
«Augen. Sie hat wirklich schöne Augen. Und sie war so warmherzig und freundlich.»
«Sie müssen lauter reden, Kumpel», sagte sie laut, weil just in diesem Augenblick irgendein Idiot die Musik zu ohrenbetäubender Lautstärke aufgedreht hatte. Dann ging sie zur Musikanlage.
«Ich geh lieber nach Hause», sagte er. Plötzlich hatte er allen Mut verloren. Die alte langweilige Geschichte. Es war wirklich nicht nötig, dass er jetzt diese Frau damit belästigte.
Er glitt vom Barhocker und spürte, wie ihm der Alkohol plötzlich zu Kopf stieg. Ihm wurde richtig schwindelig. Gerade als er sich zum Gehen wandte, tippte ihm die winzige Frau auf die Schulter.
«Wollen Sie schon gehen?»
«Es wird spät.»
«Tut mir leid wegen eben. Wegen der Musik und so. Meine Schwester hat die Bar mal eben mit einer Disko verwechselt, nur weil sie mit ihrem Dienst hier fertig ist. Was wollten Sie mir gerade erzählen?»
«Wollen Sie es wirklich hören?», fragte er überrascht, aber auch erfreut.
«Eigentlich nicht. Aber mir ist vor einiger Zeit etwas passiert, was mich zum Nachdenken gebracht hat … dass ich, ich weiß nicht … den Leuten besser zuhören sollte. Bilden Sie sich also nicht ein, dass es mich wirklich interessiert», grinste sie. «Das ist nur das schlechte Gewissen, das aus mir spricht. Außerdem muss ich Sie bei Laune halten: Sie sind ein zahlender Kunde, und Sie stürzen die Mojitos in wirklich atemberaubender Geschwindigkeit hinunter.»
Sie wandte sich zurück zum Tresen. Michael nahm wieder auf seinem Barhocker Platz.
«Geht aufs Haus», sagte sie und nickte der Limette zu, die sie zerteilte. «Also dann, erzählen Sie weiter. Die junge Frau.»
Nach allem, was er von ihr in der Bar gesehen hatte, war diese Frau zwar klein, aber tough. Sie hatte keine Angst, ihre Meinung zu sagen, und tat es auch – aber nicht so, dass er sich dabei wie ein Loser vorkam. Und so fuhr er mit seiner Geschichte fort. Und sie gab sich den Anschein, als würde sie zuhören, obwohl sie dabei mindestens ein Dutzend Gäste bediente. Er war inzwischen ziemlich beschwipst, das wusste er, und er war sich nicht ganz sicher, ob er sie vielleicht irgendwie beleidigt hatte, denn sie wurde auf einmal ganz bleich. Und dann drehte sie ihm ohne Vorwarnung den Rücken zu und ging einfach weg. Er starrte die Getränkeregale hinter dem Tresen an und überlegte schon, ob er sich auf den Heimweg machen sollte. Aber da kam die kleine Frau zurück und schob ein Foto über den Tresen.
«Ist sie das?»
14
Michael stand vor dem Fen Lane Hospital und kam sich idiotisch vor.
Er trug die schicksten Klamotten, die er besaß, und umklammerte einen Riesenstrauß roter Rosen. Gleichzeitig bemühte er sich, das Rumoren in seinem Magen zu ignorieren, diese Mischung aus Aufregung und Furcht, die ihn schon den ganzen Vormittag nicht hatte loslassen wollen.
Der letzte Abend hatte ihm eine riesige, überwältigende Überraschung beschert. Binnen weniger Minuten schien alles, was ihn so verwirrt hatte, an seinen Platz zu fallen.
Und doch konnte er es einfach immer noch nicht glauben.
Er stieß die Luft aus. Sein Arm tat weh, so ungeschickt hielt er den Strauß. Und vermutlich waren diese Rosen doch ein wenig übertrieben. Auch noch rote – was hatte er sich nur dabei gedacht?
Er war schockiert, aber auch erfreut gewesen, als Cara (die Schwester, die nach Irene Cara benannt war, natürlich!) ihn gebeten hatte, ihre Schwester zu besuchen, weil es Lena vielleicht helfen konnte. Aber er begann sich allmählich zu sorgen, was er sagen sollte, wenn er dort war. Er hatte erst ein einziges Mal mit Lena gesprochen. Er kannte sie kaum,ganz anders als ihre Familie und ihre
echten
Freunde. Aber Cara wusste das ja. Sie hatte zugegeben, dass sie ihn neulich angerufen hatte, mit ihrer anderen Schwester, und doch fühlte sie sich zuversichtlich genug, ihn ins Krankenhaus einzuladen.
War sie verrückt?
War er verrückt, sich darauf einzulassen?
Was sollte er nur sagen, wenn er das Zimmer betrat? «Ähm, hallo, erinnern Sie sich an mich? Ich bin der Idiot aus dem Bus, der sich über die Schulkinder beklagt hat.» Natürlich würde sie sich nicht erinnern, selbst wenn sie nicht seit beinahe fünf Wochen im Tiefschlaf läge. Das war doch alles unglaublich albern.
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