Bis du erwachst
hätte ausgerechnet er irgendeine Ahnung von all diesem Fitnesskram.
«Wir könnten doch später im A&R einen Eiweißshake trinken. Vor meinem Dienst», schlug Millie vor.
Sie mussten beide lachen.
Nach weiteren zwanzig Minuten wusste Michael, dass es Zeit wurde aufzuhören. Er warf einen letzten Blick in den Spiegel und musterte sein kleines Bäuchlein von der Seite. Er verspürte ein leises Bedauern, aber dann überkam ihn wilde Entschlossenheit. Wenn er sich ab sofort gesünder ernährte, joggen ging und weiter im Fitnessstudio trainierte, würde er bald einen schöneren Körper bekommen, selbst wenn es ihn umbrachte (was ihm sehr wahrscheinlich schien). Es bedurfte nur ein wenig harter Arbeit und Inspiration, und die hatte er jetzt, denn er hatte Lena.
Als er mit Millie im A&R saß, stellte Michael bestürzt fest, dass Cara nicht da war. Ade spendierte ihnen aber einen Drink. Er war wirklich ein netter Kerl. Michael fragte sich, wie er es mit Cara aushielt. War er masochistisch veranlagt?
Millie blickte ihn scharf über ihren Mojito hinweg an, als wollte sie ihn durchleuchten und auf Herz und Nieren prüfen. Michael fühlte sich plötzlich unwohl.
«Was ist?», fragte er und lächelte nervös. Er versuchte, ein besserer Mensch zu werden, versuchte mit aller Macht, sich nicht wieder in die Tiefen der Verzweiflung hinabziehen zu lassen, die seine ständige Begleiterin war, bevor er Lenagetroffen hatte. Aber wenn Millie ihn nun durchschauen konnte? Wenn sie immer noch den alten Michael sah?
«Tut mir leid, ich schaue dich nur so an, weil ich wissen will, was meine Schwester in dir gesehen hat.»
«Vielen Dank!»
«Nein, tut mir leid, das habe ich jetzt ganz falsch ausgedrückt. Weißt du, sie ist ganz anders als ich, sie ist sehr tugendhaft.»
«Tugendhaft? Wirklich?»
«Ja, so ist sie. Sie ist ehrlich und freundlich. Und ich weiß einfach, dass sie Justin nie betrogen hätte. Deswegen hat sie die Busroute gewechselt. Um sich von dir fernzuhalten, weil du in ihr …»
«Ich in ihr …?»
«Gefühle geweckt hast.»
«Das kannst du doch nicht wissen …» Sein Herz raste.
«So muss es aber gewesen sein. Cara und ich haben darüber geredet. Sie wollte sich von dir fernhalten, damit sie keine Dummheit begeht, weißt du? Und nun bin ich neugierig, was das für ein Knabe ist, der sie dazu gebracht hat.»
«Bin ich das, was du erwartet hast?» Nervös wartete er auf die Antwort.
«Ganz entschieden. Du bist nett, klug, attraktiv. Irgendwie frech. Tolle Augenbrauen. Und dir sind andere Menschen wichtig.»
Er schämte sich fast ein wenig.
«Und da ist noch was. Du hast ja keine Ahnung.»
Er wusste immer noch nicht, was er sagen sollte.
«Unter normalen Umständen fände ich dich scharf.»
Beinahe hätte er sich an einem Minzblatt verschluckt.
«Ich habe gesagt, unter normalen Umständen. Aber das hier …», sie wedelte mit der Hand, «… dass ich hier arbeite, Lena im Tiefschlaf liegt und ich mit einem tollen Typen wie dir rede und nicht versuche, dich ins Bett zu bekommen – das ist alles nicht normal!»
Jetzt stand es fest: In dieser Familie hatten sie alle einen Knall. Und er konnte gar nicht genug von ihnen bekommen.
«Es gibt keinen Grund, warum das alles nicht normal sein sollte, Millie. Vielleicht ist das der Anfang von etwas weitaus Größerem, als sich irgendwer von uns je vorgestellt hätte.»
Sie lächelte schüchtern, und auf einmal wirkte sie viel jünger. Vielleicht war sie nur eine weniger laute, weniger rechthaberische Version von Charlotte.
«Ich weiß, dass es ein Klischee ist, aber alles im Leben hat einen Sinn.»
«Wohl wahr. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal mit einem Typen anfreunden könnte, richtig anfreunden. Wir sind doch Freunde, oder?»
«Natürlich!»
Millies Gesicht entspannte sich. «Das ist schön. Seltsam, aber schön.»
«Ich glaube, das wird einfach toll», meinte er zuversichtlich.
«Schon komisch: Soweit ich weiß, liegt mein einziges Talent darin, dass die Männer mich attraktiv finden.»
«Wer hat dir denn das erzählt?»
«Niemand. Ich weiß es einfach.»
Eigentlich hätte er jetzt irgendetwas Tiefsinniges und Weises sagen sollen, so wie Oprah in ihren Talkshows, aberda er befürchtete, dass sein Vokabular dazu nicht ausreichte, entschied er, auf Nummer sicher zu gehen.
«Was meinst du, was Lena sagen würde, wenn sie das hörte?»
Sie dachte einen Augenblick nach. «Sie würde sagen: ‹Du hast viele Talente, Millie Jayne
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