Bis du erwachst
immer ein bisschen an einen zornigen Schlumpf. Sie ist mit Ade zusammen, einem wirklich tollen Typen, und dann ist da noch Lenas Freund, der, wie alle übereinstimmend sagen, ein ziemlicher Arsch ist.»
«Warum ist er ein Arsch?»
«Ist er einfach. Ich habe ihn schon kennengelernt. Außerdem kommt er sie kaum besuchen. Und anscheinend hat er sie nie so behandelt, wie sie es verdient hat.»
«Sie nicht zu besuchen ist vielleicht nur seine Art, mit der Sache fertigzuwerden. Wir können andere nicht einfach verurteilen, nur weil sie etwas tun, was nicht in unser Wertesystem passt, Michael.»
«Ich weiß …»
«Na, egal. Aber mir klingt das alles danach, als wärst du verliebt.»
«Sei doch nicht albern, Charl. Wie kann ich in jemanden verliebt sein, mit dem ich nur ein einziges Mal gesprochen habe? Das ist doch Blödsinn.»
«Ich meine doch in ihre Familie, du Dummkopf!»
Da war er ihr doch glatt auf den Leim gegangen.
«Aber wenn du mir sonst noch etwas zu sagen hast …?»
«Natürlich nicht», erwiderte er rasch.
«Wenn ich es mir recht überlege, klingt es so, als sei die Frau mit den grünen Augen, die nie etwas sagt, genau deine Traumfrau.»
«Mach dich nicht über mich lustig, Charl.»
«Tut mir leid, großer Bruder. Du hast recht, das ist alles wirklich traurig», erklärte Charlotte, die nun doch ernst wurde.
«Ich weiß, oberflächlich betrachtet, ist es traurig. Unglaublich traurig, die ganze Situation, aber …»
«Aber du kennst sie nicht gut genug, um ihretwegen traurig zu sein?»
«Nein. Doch. Nein. Doch, ich bin schon traurig, Charl – sehr. Vor allem, wenn ich daran denke, was sie alles hätte erreichen können. Als ich sie damals kennengelernt habe, schien sie so … lebendig, so voller Leben. Sie hat zu einem Song auf ihrem MP 3-Player mitgesungen, und sie war unglaublich komisch. Ihre Kleider haben überhaupt nicht zusammengepasst …» Er redete zu viel. «Ich komme einfach nicht darüber weg, dass sie ihre Möglichkeiten nie ausgeschöpft hat. Klingt das logisch?»
«Ja, ich glaube schon.»
«Und für ihre Familie und ihre Freunde kann ich schon traurig sein, das ist doch normal. Nur, wenn ich
sie
anschaue, weißt du, was ich dann sehe?»
«Was siehst du denn, mein liebster großer Bruder?»
«Nichts als Hoffnung. Für alles. Für mich.»
Michael erwartete gar nicht, dass seine ansonsten durchaus kluge Schwester kapieren würde, was in ihm vorging. Er begann es ja gerade selbst erst zu begreifen. Vielleicht war die einzige Person, die es verstehen würde, Lena. Und so fand er, dass er am besten zu ihr gehen sollte.
Michael fühlte sich merkwürdig, aber auch ganz ruhig, als er im Fen Lane Hospital ankam, ohne dass er zuvor ein Mitglied von Lenas Familie gefragt hatte. Sonst war Cara die Vermittlerin gewesen, aber jetzt fühlte er sich durchaus bereit und auch berechtigt, selbst aktiv zu werden. Außerdem fühlte er sich seit der Dinnerparty sehr viel stärker, und dann hatten die Frauen seinen Rat mit der Geburtstagsparty tatsächlich angenommen. Es war schön, wenn einem zugehört wurde, und er hatte das Gefühl, dass er ihnen doch etwas bedeutete.
Er hatte das Gefühl, dass er Lena etwas bedeutete.
«Ach, hallo», sagte ein dicker Mann, der an Lenas Bett saß. Michael war sich so sicher gewesen, dass er mit Lena allein sein würde. Kitty ging um diese Zeit oft spazieren, und Cara war mit Millie in der Bar. «Ich bin Lenas Chef Andy.»
«Ihr Chef bei Kidzline?»
«Genau. Andy der Große.»
Wenn Michael Lena
wirklich
gekannt hätte, hätte er natürlich gewusst, wer Andy war.
«Ich halte Riesenstücke auf das Mädchen. Natürlich habenwir bei Kidzline viele Berater. Manche haben jahrelange Erfahrung, sogar Diplome, aber Lena, die hatte es einfach drauf.»
«Einfach drauf?»
«Ja, sie wusste genau, wie man mit einem Kind reden muss, einem Teenager oder mit paranoiden Eltern. Sie hatte die Fähigkeit, sie zu beruhigen, auch wenn sie selbst nie etwas Vergleichbares durchgemacht hat. Zum Beispiel gab es da mal ein Kind, das in der Schule gemobbt wurde. Sie wusste genau, was sie zu ihm sagen musste. Und dann war da ein kleines Mädchen, das hatte zu Hause Probleme mit seinem Dad. Sie konnte, nun ja, einfach großartig zuhören. Ihr liegen die Leute wirklich am Herzen. Sie verstehen, was ich meine?»
Michael spürte, dass dieser Mann sehr viel von Lena hielt. Es war fast, als hätte sie jeden, mit dem sie in Kontakt kam, irgendwie verzaubert. Ihm war es
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