Bis du erwachst
ja ebenso ergangen.
«Ein Mädchen hat wochenlang angerufen. Hat sich nicht getraut, jemandem zu erzählen, was in ihrem Leben vor sich ging, was sie tagtäglich mit ihrem trinkenden Vater durchmachen musste. Unsere Lena hat sie dazu überredet, sich zu öffnen, und jetzt ist das Mädchen an einem sicheren Ort. Alles dank Lena. Weil es ihr wichtig war. Natürlich sind wir nur als Vermittlung tätig. Wir verweisen die Leute an die entsprechenden Beratungsstellen, aber manchmal ist es wirklich sehr, sehr schwer, sich nicht auch persönlich zu engagieren. Lena hat das alles immer sehr professionell gehandhabt. Aber ich kann Ihnen verraten, hinterher hat sie sich bei mir im Büro oft ein wenig ausgeweint.»
«Konnte sie sonst noch mit jemandem darüber reden?»
«Natürlich, meine Mitarbeiter bekommen alle Supervision.»
Nach allem, was Michael gehört hatte, angefangen bei dem Geburtstagsessen, gab es in ihrer Familie wohl niemanden, an den sie sich hatte wenden können. Und das tat ihm wirklich sehr, sehr leid. Er bedauerte, dass nicht
er
für diese wunderbare, besondere junge Frau hatte da sein können.
«Typisch Lena, einfach holterdiepolter die Treppe runter. Typisch Lena.» Traurig sah Andy auf seine Angestellte, und Michael spürte, dass dieser korpulente Mann Lena nicht nur als Mitarbeiterin schätzte, sondern fast wie eine Tochter gernhatte.
«Ich kann zum Kaffeeautomaten gehen, wenn Sie ein wenig mit Lena allein sein möchten», bot Michael an.
«Danke nein, aber ich sollte besser gehen», sagte er und stand auf. «Ich muss los. Bin schon eine ganze Stunde hier. Meine Frau wird glauben, ich hätte mich verlaufen. Passen Sie gut auf sie auf, ja? Es tut mir wirklich leid, dass das passieren musste, Ihnen beiden», sagte Andy und warf noch einen Blick auf Lena.
Ihnen beiden.
«Sie ist ein guter Mensch. Aber das wissen Sie ja, nachdem Sie so lang mit ihr zusammen waren. Sind, meine ich. Passen Sie auf sich auf, mein Freund.» Sie gaben sich die Hand, und Michael überlegte kurz, ob er ihm sagen sollte, dass er nicht Justin war. Aber er entschied sich dagegen.
Und dann war er endlich mit ihr allein. Ganz wie er es sich erhofft hatte.
«Lena», sagte er, während er die Oasis-CD durch Amerie ersetzte und auf Play drückte.
«Lena. Ein schöner Name für eine schöne Lady.» Das klingt nach einer wirklich üblen Anmache, dachte er. Also räusperte er sich und versuchte es noch einmal.
«Lena, ich weiß nicht, ob Sie mich hören können, aber … aber ich hab unser Gespräch im Bus wirklich genossen.» Jetzt klang er wie ein Trottel. Außerdem konnte er Lena doch nicht siezen, jetzt, da er ihre gesamte Familie seit dem Dinner duzte. Nervös räusperte er sich noch einmal. Er musste daran denken, wie er Becky Anderson im dritten Jahr gefragt hatte, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Nein, das hier war schlimmer. Viel, viel schlimmer.
Und dann erinnerte er sich an Lenas Augen. «Diese Augen. So wunderschön. Und so ungewöhnlich. Ich habe das bei unserem Gespräch erwähnt, oder? Ich möchte es hoffen. Mann, wenn ich mich nur daran erinnern könnte, was ich alles zu Ihnen … zu dir gesagt habe damals, als wir zum ersten und einzigen Mal miteinander geredet haben, in dem lauten Bus auf dem Weg zur Arbeit. Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich mich mehr darum bemüht, dich kennenzulernen. Ich hätte das teure Aftershave genommen, das Charlotte mir zum Geburtstag geschenkt hat, statt das billige Zeug aus dem Drogeriemarkt. Ich hätte noch zehn Minuten investiert, um mich ein wenig zurechtzumachen. Denn wenn du auch nur annähernd so bist, wie deine Familie und Andy dich beschreiben, dann bist du einfach … einfach ein erstaunlicher und einmaliger Mensch. Genau wie deine Augen.» Er versuchte sie sich vorzustellen. So grün, so leuchtend. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. Sie war einfach wunderbar, dieses schlafende Dornröschen im Bett vor ihm. Ein Schauder überlief ihn. «Ich muss zugeben, zuerst dachte ich ja, es wären Linsen. Du weißt schon, diese kosmetischen Linsen, wie sie von jungen Mädchen in Trainingsanzug und High Heels getragen werden. Aber du bist kein junges Mädchen … womit ichnatürlich nicht sagen will, dass du alt bist, du bist schließlich erst dreißig. Die Dreißigjährigen sind die neuen Zwanziger, heißt es in Charlottes Zeitschriften … ähm. O Mann, geht das jetzt in die Hose oder was?» Er lachte, und in seiner Vorstellung tat sie das
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