Bis du erwachst
etwas warten sollten? Dass sie noch so viel vorhatte in ihrem Leben und noch nicht bereit war, einen solchen Schritt überhaupt in Betracht zu ziehen? Verdammt, sie hasste Augenblicke wie diese, in denen sie ihrer Schwester mehr ähnelte, als ihr lieb war. Sie analysierte sich dann zu Tode. Sie setzte sich auf und runzelte die Stirn. Okay, immer der Reihe nach: Sie wollte definitiv keine Kinder. Nein, das stimmte nicht. Sie hatte sich nur noch nie vorgestellt, wie es sein könnte, ein Kind zu haben. Sie fühlte sich nicht wohl in Gegenwart von Kindern. Sie mochten sie nicht, man sah das ja auch an Michaels Nichte und Neffe. Sie wusste nicht, was man mit einem Kind anfing. Immerzu weinten die oder mussten gefüttert werden. Sie war sich nicht sicher, ob sie gut darin wäre. War das alles, oder steckte noch mehr dahinter?
Auch Millie dachte über sich nach.
Woran würde man sich nach ihrem Tod erinnern?
Diese Frage ging Millie den ganzen Tag im Kopf herum, von dem Moment, in dem sie aufwachte, bis zu dem Moment, in dem sie zu Bett ging. Lena hatte eine Menge Menschen berührt: Deana und die anderen Kinder bei Kidzline, sie selbst, Cara, Michael, Andy. Die Liste war vermutlichendlos. Selbst im Tiefschlaf berührte Lena die Menschen noch. Wahnsinn.
Aber was hatte
sie
der Welt zu bieten?
Sie musste mit Kitty darüber sprechen.
«Geh doch zur Uni oder so.»
«Das ist wohl nichts für mich.»
«Nein, du gerätst da eher nach mir. Die ganze Lernerei liegt dir nicht. Die Bühne wäre schon eher was für dich. Wie wäre es mit einem Schauspiel-Abendkurs? Wir könnten das zusammen machen, du und ich – wäre das nicht toll? Ich könnte sogar mal nachfragen, ob sie eine Lehrerin brauchen. Ich könnte meine Erfahrungen weitergeben … Wenn ich bei meinen Mädchen bleiben soll, brauche ich sowieso eine Beschäftigung.»
Und wieder drehte sich das Gespräch um Kitty. Aber Millie nahm ihr das nicht übel. Sie freute sich, dass sie bei ihnen blieb, denn was auch geschah, ihre Mum würde sie immer brauchen.
Michael dachte nicht mehr über sich nach. Er war ein Mann der Tat, und im Augenblick strahlte er vor Freude, weil er soeben in seine eigene, funkelnagelneue Wohnung gezogen war. Auch wenn sie noch nicht so aussah wie die Neubauten in Lower Sydenham, auf die er früher immer so scharf gewesen war, wirkte die Wohnung, in der er die letzten fünf Jahre gehaust hatte, wie verwandelt. Die Wände erstrahlten in neuem Glanz, der Fußboden war makellos sauber, überall blinkten neue Haushaltsgeräte. Nichts Protziges, nur ein schicker weißer Wasserkocher, ein Toaster von Argos. Glänzende Knöpfe für die Küchenschränke hatte er auch besorgt. Seinen alten Krempel hatte er aussortiert, derGroßteil stand schon unten und wartete darauf, in die Recyclingtonne zu wandern. In seiner Wohnung war auf einmal viel mehr Platz.
Einen Gedanken konnte er sich allerdings nicht verkneifen: wie sehr diese Veränderung Ausdruck seines neuen Lebens war. Ihm war, als hätte er die schwere Last der Hoffnungslosigkeit und des hausgemachten Drucks zusammen mit dem Müll entsorgt.
Er fühlte sich viel leichter.
Geradezu beschwingt.
Das Leben fühlte sich großartig an.
Michael schaute in den Kühlschrank, der nun nicht mehr leer war, sondern fünf Flaschen Wasser enthielt und eine Auswahl an Obst, einschließlich Litschis. Gemüse konnte er immer noch nicht ausstehen, aber die Vitaminpillen in seinem Schrank und das ekelhafte Gerstengras würden schon ausreichen. Er hatte zu lesen begonnen – vor allem Gesundheitsbücher und Biographien von Leuten, die er bewunderte, wie Barack Obama. Und das Beste war: Wenn Charlotte und die Kinder zu Besuch kamen, fühlte er sich nicht mehr als schrecklicher Versager. Dabei hatte Charlotte ihn in Wirklichkeit nie wegen irgendetwas verurteilt, ja sie hatte nicht einmal das von ihm erwartet, was er tatsächlich für sie tat. Das Versagen hatte allein in seinem Kopf stattgefunden, das konnte er jetzt sehen. Natürlich würde er sich immer bemühen, sie gut zu versorgen, aber er war nun bereit, seine Grenzen anzuerkennen. Statt darüber zu jammern, dass er in seinem nicht existenten Garten keine Dinosaurierjagd veranstalten konnte, nahm er sie alle in den Dulwich Park mit.
Und dann war da noch das, was Cara gesagt hatte, nämlich dass er für Lena genau der Richtige sei. Das hatte sichin seinem Kopf festgesetzt, beinahe gegen seinen Willen. Er wurde den Gedanken einfach nicht mehr los, und
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