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Bis einer stirbt

Bis einer stirbt

Titel: Bis einer stirbt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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schnippischer als geplant. »Streiten können sie dann wenigstens nicht mehr.«
    »Ich vermisse ihn.« Nils blickte vor sich aufs Pflaster.
    »Du denkst, deine Mutter hat ihn vertrieben?«
    »Manchmal schon … Ein Mann an ihrer Seite, das funktioniert einfach nicht. Es passt nicht wirklich in ihren Plan, glaube ich.« Ein leichter Wind kam auf, dann eine Böe. Eine abgewetzte Plastiktüte wurde durch die Luft gewirbelt. Die Böe erstarb und die Tüte blieb liegen. Niemand würde sie jemals wieder beachten.
    »Meine Eltern haben früher fast nie gestritten«, sagte ich. »Komisch, oder?«
    »Weiß nicht.«
    »Sie waren immer eine Einheit, auch gegen Pit und mich. Ein eingeschworenes Team. Aber auch das ist jetzt anders. Mein Alter«, ich biss mir auf die Zunge, »… mein Vater … kommt mit seiner Arbeitslosigkeit nicht klar. Er ist jetzt fünfzig. Vielleicht fühlt er sich irgendwie … weggeworfen. Wie so ’ne blöde alte Plastiktüte. Er ist sauer auf sich selbst und auf alle anderen auch. Meine Mutter muss viel mehr arbeiten als früher. Sie sitzt im Supermarkt an der Kasse und verdient viel zu wenig. Mein Vater betrinkt sich oft und die beiden streiten sich. Manchmal glaube ich, sie können sich nicht mehr ausstehen.«
    Mir war zum Heulen zumute. Aber um nichts in der Welt wollte ich mich gehen lassen. Nils trabte neben mir her, die Hände tief in den Taschen, und schaute hinaus auf die schwarze Wasserfläche.
    Dann gingen die Straßenlaternen an. Sie leuchteten tiefgelb. Das Wasser glitzerte und kräuselte sich in zitternden kleinen Wellen.
    »Ich ruf zu Hause an«, sagte ich. »Jetzt sofort.«
    Das kam für mich selbst überraschend. Nils schwieg. Ich stellte mich in den Eingang einer leer stehenden Lagerhalle mit runtergekommenem gelbem Anstrich, holte mein Handy heraus und drückte die Nummer meiner Eltern. Ich war fest entschlossen, mich den Dingen zu stellen, und wollte nur noch zurück.
    Nils lächelte mir leise zu. Für ein paar Sekunden war die Welt in Ordnung. Am anderen Ende wurde abgenommen.
    »Ja?!«
    Mein Vater. Er klang furchtbar genervt. Wahrscheinlich hatte ich ihn bei der Sportschau gestört. Mir blieben die Worte im Hals stecken.
    »Verdammt! Wer ist denn da?!«, schrie er in den Hörer. Er hatte getrunken. Aus dem Hintergrund kam die Stimme meiner Mutter: »Vielleicht ist es Pit? Oder Klara?«
    »Und wenn schon?«, maulte er sie an. »Ich will mit keinem reden, der seinen Namen nicht nennt.«
    »Dann gib mir den Hörer«, sagte sie. Sie schien jetzt näher beim Telefon zu sein.
    »Das könnte dir so passen«, zischte er.
    Das war das Ende des Gesprächs. Er legte auf. Ich wusste sofort, dass ich es kein zweites Mal versuchen würde. Ich steckte das Handy in die Tasche, hielt aber noch kurz inne, um mich zu sortieren. Nils stand draußen, den Blick aufs Wasser gerichtet. Sein Atem stieg als weißer Dampf in die Luft. Der Nebel auf dem Wasser war jetzt schon so dicht, dass man die andere Hafenseite nicht mehr sehen konnte.
    Ich hatte mich gerade halbwegs wieder gesammelt, als ich ein seltsames Geräusch hörte. Es klang wie ein unterdrückter menschlicher Schrei. Ich blieb stehen und lauschte. Das Geräusch wiederholte sich. Wieder war ich nicht ganz sicher, ob es tatsächlich ein Schrei war. Ich konnte auch nicht ausmachen, woher genau er kam. Ich war wie erstarrt.
    Nils merkte, dass etwas nicht stimmte, und kam schnell zu mir. »Was ist?«
    »Ich hab was gehört«, flüsterte ich. »Aus einer der Hallen da hinten, glaub ich. Vielleicht auch aus dieser hier, keine Ahnung. Jedenfalls klang es wie Schreie. Oder wie ein Jaulen. Ganz seltsam.«
    »Ratten«, sagte Nils, ohne lange zu überlegen. »Ich hab grad da draußen eine gesehen, die ins Wasser gesprungen ist. Die geben manchmal komische Töne von sich. Vor allem, wenn sie miteinander kämpfen.«
    Seine Worte beruhigten mich nur wenig. Er ging zur Tür und drückte die Klinke fest herunter. »Abgeschlossen. Hier ist kein Mensch. Schon seit Jahren kommt hier keiner mehr her. Gehen wir? Willst du jetzt nach Hause?«
    Nein, wollte ich gerade sagen, das hat noch Zeit.
    Aber da meinte er, wir hätten sicher eine Menge zu besprechen, meine Eltern und ich. Das klang so überzeugend, dass ich nicht anders konnte, als einfach stumm zu nicken.
    »Wenn du willst«, sagte er, »bring ich dich hin.«
    Während wir nebeneinander herliefen, verflog langsam mein mulmiges Gefühl. Aber noch immer konnte ich nicht über den Anruf zu Hause reden. Also

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