Bis hierher und weiter - Mit allen Nockherberg-Reden von Bruno Jonas
Unübersichtlichkeit!
»Fernsehen ist Metaphysik fürs Volk.« Sagt der Philosoph Safranski. Was meint er damit? Er meint: Fernsehen ist der Sinn-Discounter, Fernsehen ist der Sinn-Lidl - der religiöse Aldi.
Es ist ganz einfach. Du sitzt daheim in deinem Wohnzimmer vor dem Fernseher und hast das gleiche gefühl wie in der Kirche. Das Wohnzimmer ist dein Andachtsraum. Dort sammelt sich der geist in der gemütlichkeit zwischen Schrankwand und Couch von Ikea. Der Fernseher ist der Bildertabernakel. Und die Stimme des Propheten fragt dich: »Wohnst du noch oder lebst du schon?«
Du weißt sofort, diese Frage stammt aus dem Buch Ikea. Und dir fährt der Schreck in die glieder. Wohne ich nur?, fragst du dich angstvoll. Wohnen bedeutet vegetieren, um gottes willen! Aber es gibt Hoffnung. Ikea bringt dich zur Welt und schenkt dir ein Leben.
Andere wohnen. Sie haben ein Dach über dem Kopf, aber das ist kein Leben. Der Mensch kommt mit Ikea daheim immer wieder neu zur Welt. Ikea, das ist kein Möbelkonzern, das ist eine Religion. Weil der Mensch nicht nur ein Lebewesen ist, sondern ein Möbelwesen. Der Mensch lebt, weil er west. Und Ikea sagt: Der Mensch lebt, wenn er möbelt.
Und mittendrin in dieser Ikea-Option, in der möblierten Wiedergeburt des Menschen, befindet sich der Fernseher, aus dem die gläubigen Möbel-Menschen geduldig die Qualen der Welt empfangen. Weil der Mensch nicht nur möbelt, wenn er wohnt, sondern lebt, wenn er west.
Trost und Zuspruch kommen von den Fernsehpriestern, den Moderatoren und Journalisten, den Anchormen und Anchorwomen, von Anne Will und Tom Buhrow. Sie zelebrieren ihre Messen vor der gemeinde der Wirklichkeitsgläubigen, die glauben, was sie sehen. Und sehen, was sie glauben.
Im Fernseher findet täglich die Wandlung statt vom Tatsächlichen ins Fiktive. Und Buhrow zelebriert: »Seht, dies ist mein Ton und dies ist mein Bild! gehet hin in Frieden.«
Das wirkliche geschehen, die Attentate, die Kriege, die Ereignisse werden durch das Fernsehen gerahmt, sie werden geheiligt und verlieren dadurch ihre Bedrohlichkeit. Das wirkliche Leben kommt übers Fernsehen beim gläubigen Zuschauer als erfundene geschichte an.
Im Wohnzimmer glaubst du, dass der Weltuntergang im Fernsehen stattfindet. Und da sagst du dir: Da schau, haben wir wieder Weltuntergang. Da hole ich mir doch noch eine Halbe.
Deshalb sind wir doch auch alle so ruhig und gelassen geworden, so cool. Es berührt dich nichts mehr wirklich. Der Fernseher macht dir die Welt erträglich.
Es geht mir wie diesem einen amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, an der amerikanischjapanischen Front. Kennen Sie die geschichte? Sie soll wirklich passiert sein. Ich habe sie gelesen, bei Stephan grünewald, in seinem Buch Deutschland auf der Couch .
Ein Soldat liegt in seinem Schützengraben, der Feind in sicherer Entfernung. Es ist ganz still. Feuerpause. Kann aber jeden Moment wieder losgehen. Plötzlich wird die Stille durch Stimmengewirr unterbrochen, das von vorne kommt, von der Kampflinie. Der Captain wird aufmerksam und geht den Stimmen nach und findet einen Soldaten in der vordersten Linie. Er kann es nicht glauben. Dieser Soldat hört Radio, einen amerikanischen Kurzwellensender. Der Captain will dem Soldaten das Radiohören sofort verbieten, doch er kommt nicht mehr dazu, weil er von der geschichte des Hörspiels, das da grade läuft, dermaßen gefangen genommen wird, dass er nicht mehr anders kann und aufmerksam zuhört. Das Hörspiel handelt von einem amerikanischen Soldaten, der ganze vorne an der Front auf den feindlichen Angriff wartet und dabei Radio hört. Einen amerikanischen Kurzwellensender. Ein Hörspiel. Und es handelt von einem amerikansichen Soldaten, der ganz vorne an der Front …
Der Soldat konnte nicht mehr auseinanderhalten, was er im Radio hört und was er grade erlebt. Das wirkliche Leben wird eins mit dem erfundenen.
Ich habe überlegt, ob das heute auch noch möglich wäre. Im Irak? Wenn der Feind auf der anderen Seite auch Radio hört, also dasselbe Hörspiel, und wenn beide Seiten sicher sind, dass die geschichte, die sie hören, wirklich ist, also blutiger Ernst, dann könnte es ziemlich lange gut gehen. Es darf bloß keiner das Radio ausschalten. Dann krachts gewaltig. Aber es gibt Beispiele, wo die Trance anhält.
Ich habe einmal in den 70er-Jahren einen Film im Kino gesehen mit Peter Sellers in der Hauptrolle, Welcome Mr. Chance. Er spielt einen gärtner, der in einem Schloss bei einem sehr
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