Bis hierher und weiter - Mit allen Nockherberg-Reden von Bruno Jonas
schön formuliert, gell? Leider nicht von mir. Habe ich ebenfalls in der Zeit gelesen. Diese »Leute mit der religiösen Blutgruppe Null«, sie leben auch, und in ihren Adern fließt auch jener ganz besondere Saft. Katholiken haben vermutlich die Blutgruppe A Rhesus positiv, die Evangelischen wahrscheinlich negativ. Aus Sicht der Katholischen. Egal, welcher Blutgruppe man angehört, die Verkalkung droht allen. Ist das wieder Ironie der geschichte? Ist die ganze geschichte am Ende nichts als Ironie?
Aber um noch mal auf das Bild zu kommen von der »unkartierten See«. Die Atheisten treiben darin umher und orientieren sich, so gut es geht, mithilfe der Vernunft und paddeln oft genug in die Irre.
Die gläubigen paddeln auch in die Irre, aber mit Hoffnung. Es gibt also mehrere Möglichkeiten, in der Irre anzukommen. Wieder Ironie. Im Nachhinein wird alles ironisch.
Und oft ist die Irre gar nicht so weit weg. Bei mir in Haidhausen in München befindet sich die Irre ums Eck. Neulich war ich wieder mittendrin. Und zwar unverhofft. Ich war mit dem Radl unterwegs und bin direkt mitten reingefahren. Es war an der Ecke Wörthstraße/Preysingstraße. Da, wo es rübergeht zum Johannisplatz. Wenn du einmal in der Irre angekommen bist, kannst du sicher sein, dass eine Kirche in der Nähe ist. Eine Kirche steht immer nah an der Irre.
Es war schon nicht mehr ganz hell, im Nachhinein muss ich sagen, es herrschte wieder logische Dämmerung.
Die Preysingstraße ist eine gut angelegte Nebenstraße in München-Haidhausen, deren gehwege mit Steinpfosten gesichert sind. Dazwischen hängen schwere Ketten. Allerdings gibt es zwei Pfosten, die kettenfrei gehalten sind. Ich seh die kettenfreie Zone und denke, wenn das so ist, werden nebenan, zwischen den Pfosten, auch keine Ketten sein. Wie gesagt, es herrschte logische Dämmerung.
Ich halte also auf den angenommenen Freiraum zu und fädle ein. Die Kette hat genau unter den Lenker gepasst, und mit einem gewaltigen Ruck zieht es mich über die Lenkstange und ich flieg in hohem Bogen auf die Straße und lande am Kopfsteinplaster.
Mich hat es also vom Radl runtergeholt, weil ich offensichtlich eine Kette an einem Bürgersteig übersehen hatte. Ich habe aber erst hinterher gemerkt, nachdem es passiert war, was es war, als ich auf der Straße lag und mich herbeieilende Passanten fragten, ob mir etwas passiert sei.
»Ist Ihnen was passiert?«, haben sie gefragt.
»Ich weiß es noch nicht!«, habe ich geantwortet.
Die Dauer dieser Frage haben sie gebraucht, bis sie gemerkt haben, dass mir was passiert war. Obwohl sie es beobachtet hatten. Und ich habe auch eine Zeit gebraucht, um zu merken, ob mir etwas passiert war.
Das heißt, wenn dir etwas passiert, merkst du es erst, wenn es vorbei ist - nach einer gewissen Zeit.
Wenn also der Flieger seinen Touchdown in der Ewigkeit hat und dich jemand fragt, ob dir etwas passiert ist, und du antworten kannst, ich weiß es noch nicht, dann bist du entweder im Himmel oder in der Hölle, aber auf keinen Fall in der Vorhölle, weil die der Benedikt abgeschafft hat.
Wenn dich aber niemand fragt, ob dir etwas passiert ist, und du nicht in der Lage bist zu antworten, wenn du also weder die Frage hören kannst noch die Antwortmöglichkeit hast, dann ist es wurscht, weil es dann ein für alle Mal vorbei ist.
Diese Zeitspanne zwischen dem Zeitpunkt, wo es passiert, und dem Zeitpunkt, wo du merkst, dass dir etwas passiert ist, nennt der Ernst Bloch das Dunkel des gelebten Augenblicks. Und wenn du diesen Augenblick noch erhellen kannst, dann lebst du. Wer über das Dunkel etwas sagen kann, weiß mehr.
Ernst Bloch war ein sehr guter Berater, der alles für möglich gehalten hat. Alles für möglich zu halten ist nicht schlecht.
Schaut auf die Uhr.
Ich habe öfter mal zwischendurch so kleine Überschreitungen ins Unerklärliche.
Zwischendurch hab ich manchmal a bissl Lust auf eine Metaphysik. Religion ist ja eigentlich auch nichts anderes als eine Power-Point-Präsentation. Mit drei Bullet-Points. Weihnachten, Ostern, Pfingsten. geburt, Tod, Auferstehung.
»Die alltägliche Religionslosigkeit hängt damit zusammen, dass diese metaphysischen Bedürfnisse durch … (das Zuhausesein) die virtuellen Bilderwelten schon abgegolten sind.« Sagt der Rüdiger Safranski, ein von mir sehr geschätzter Consulter.
Er meint das kontemplative Schauen, das wir alle brauchen, den Blick auf die unkartierte See, das gläubige goasgschau auf die komplexe
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