Bis ich bei dir bin
Rücken zu und marschiere davon.
»Nein!« Ihre Schritte eilen mir nach. »Hör zu, ich weiß nicht, wie deine Viv war. Vielleicht war sie nicht so besitzergreifend und hat versucht, dich von allen zu isolieren, vielleicht wollte sie dich nicht ganz für sich haben, weil ich keine Gefahr dargestellt habe …«
»Hör auf!«
»Aber verwechsele sie nicht miteinander!«
»Untersteh dich, so über sie zu reden.« Ich klinge leise und verloren und blicke dorthin, wo der Schrein war.
»Es tut mir leid«, sagt Nina, als sie es bemerkt. Sie reibt sich die Arme und starrt seufzend auf das Pflaster. »Sein Leben konnte ich nicht retten, aber ich dachte, ich könnte vielleicht deines retten. Ich hatte noch nie eine zweite Chance, bei was auch immer.«
Ich spüre ihren Blick auf mir, weigere mich jedoch, sie anzusehen.
»Ich habe ihn geliebt«, murmelt sie. »Egal, was du von mir denkst.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, geht sie zurück zu der Ecke. Als sie den Mast erreicht, streckt sie ruhig eine Hand aus, bis sie durchscheinend wird, schiebt den ganzen Arm hinein, dreht sich seitwärts und schlüpft durch den sehr schmalen grünen Lichtspalt.
Sie sieht sich nicht einmal mehr um, ehe sie verschwindet.
Die Straßenecke ist dunkel und verlassen. So war sie vorher, und so wird sie, begreife ich, bald auch wieder sein. Ich nähere mich der Stelle, an der Nina verschwunden ist, und erhasche noch etwas von dem Pfirsichduft ihrer Haare. Ich greife in die Finsternis und wedele mit grünen Fingerspitzen durch die Luft, fahre die Ränder dessen nach, was sich einst wie eine Pforte zur Ewigkeit anfühlte und jetzt nur noch wie ein kleines, sich langsam schließendes Fenster.
Ninas Worte hallen in mir nach.
»Ein blaues Auto.«
EINUNDDREISSIG
H eute Nacht ist der Traum anders. Ich bin allein an der Ecke. Wie zuvor ist alles still und stumm, und ich kann mich nicht vorwärtsbewegen. Etwas fällt mir ins Auge – eine Gestalt in der Ferne. Nina? Sie rennt und winkt, ohne das kleinste Stück näher zu kommen. Ich will ihr etwas zurufen, habe aber keine Stimme. Als ich den Kopf wende, bekomme ich flüchtig einen verschwommenen blauen Schemen zu sehen und werde von weißem Licht geblendet.
Zitternd erwache ich in meinem Bett und starre in einen schwarzen Himmel. Das Fenster über mir steht weit offen. Erschrocken mache ich es zu und wische mir die Stirn mit dem T-Shirt ab. Ich triefe vor Schweiß, also ziehe ich mich bis auf die Boxershorts aus und schlüpfe wieder unter die Decke, aber es ist unmöglich, mich zu entspannen oder wieder einzuschlafen.
Nicht nach diesem Traum.
Ich habe weder Viv noch Nina je nach dieser Unfallflucht gefragt. Es schien eine klare Sache zu sein – der Schuldige bekam es mit der Angst zu tun und fuhr einfach weiter. Ich bin immer davon ausgegangen, dass man ihn nie gefasst hat, doch nun stellen sich mir ein paar beängstigende Fragen. Viv hat etwas von schlimmen Dingen erwähnt, die sie bereut, und manchmal scheint sie vor ihrer Welt davonzulaufen; manchmal erinnert ihre Eifersucht stark an Furcht.
Aber wer könnte ihr einen Vorwurf daraus machen? Es war ja auch ein schrecklicher, tragischer Unfall.
Wie kommt Nina dazu, etwas anderes zu behaupten?
Ich trete in die dunklen Schatten an der Ecke und lasse mich von ihnen verschlucken, nachdem ich mich nach allen Richtungen umgesehen habe, ob die Luft rein ist. Heute Abend gehe ich kein Risiko ein. Es ist zwar ein Footballspiel angesetzt, aber das findet zum Glück auswärts statt.
Ein kalter Wind weht von Norden und überzieht alles mit Frost. Es ist ein Gefühl, als würden sich Eiskristalle in meiner Lunge bilden. Mit klopfendem Herzen greife ich in den leeren Raum neben dem Strommast und atme auf, als meine Finger in das vertraute grüne Schimmern gleiten.
Wird es das letzte Mal sein? Werde ich es zurück nach Hause schaffen – zusammen mit Viv? Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, und fahre lieber den Umriss des Durchschlupfs mit der rechten Hand nach, um die Abmessung einzuschätzen. Er sieht kleiner aus als gestern, aber sicher bin ich mir nicht. Unfassbar, dass Nina mich erst darauf aufmerksam machen musste.
Ich werfe noch einen letzten Blick über die Schulter, aber sie ist nicht hier. Wenn sie schlau ist, wird sie auch nicht hier herumlungern, wenn Viv und ich zurückkommen. Denn sobald ich diese Sache mit dem Unfall geklärt habe, werden Viv und ich von hier fortgehen. Ich schiebe einen Fuß durch den schmalen grünen
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